Wissenschaft  und Forschung

Das autoritäre Syndrom in den arabischen Gesellschaften

Eine sozialpsychologische Analyse


Weitere Implikationen sind die Wahrnehmung des Individuums als doch mehr oder weniger unmündig, so dass es der Fürsorge und Führung des Patriarchen bedarf, um sein Glück zu finden. Das Verhältnis zwischen Patriarch und „Herde“ ist jedoch reziprok, denn der autoritäre Charakter bewirkt eine Befreiung von Angst bzw. Gewährung von Schutz durch Anlehnung an eine gewaltige Macht einerseits und als Erfüllung der eigenen Wünsche nach Größe und Stärke durch das Aufgehen in der Macht andererseits. Somit verkörpert die Autorität auch Ideale, so dass nicht nur Angst, sondern auch Bewunderung empfunden wird.
Die im Unbewussten weiter drängenden und treibenden Ansprüche und Bedürfnisse äußern sich dann im Extremfall in offenkundig irrationalen Wahnvorstellungen und neurotischen Zwangshandlungen. Misserfolge werden hingegen verschwörungstheoretisch gedeutet. Tatsächlich wird selbst unter den Eliten der arabischen Welt ein Verschwörungsdenken gepflegt, das die eigene Schieflage lediglich durch das Verschulden des Westens deutet. Dies geschah vor den Umstürzen und geschieht heute in gesteigerter Intensität.Bezieht man die Ergebnisse der Autoritarismusforschung mit in die Analyse arabischer Gesellschaften ein, so erhalten wir ein weiteres Instrument, das uns beim Verstehen dieser hinsichtlich ihres autoritären Charakters (Adorno u.a. 1950: 295) hilft. Durch die Erwartung, sich stets dem Patriarchen unterzuordnen, auch wenn dieser seinen Aufgaben nicht nachkommt bzw. nicht nachkommen kann, entsteht ein sozialer Druck, der sich bei Nichteinhaltung in der Regel in Form sozialer Sanktionen ausdrückt. Diese Sanktionen sind in ihrer Bedeutung sehr zentral, denn sie stabilisieren nicht nur das System, sondern sie leisten einen wichtigen Beitrag bei seiner Reproduktion. Die Ahndung der Fehltritte des Normabweichlers gewährt die Identifikation mit den Autoritäten. Sie ermöglicht aber auch, die eigenen moralischen Unzulänglichkeiten zu externalisieren und auf Schwächere zu projizieren, um sie stellvertretend zu sanktionieren. Die beiden Kategorien „mächtig“ und „machtlos“, die der autoritäre Charakter impliziert, ergänzen sich meistens in einem Menschen, der zur Macht aufblickt und nach unten aggressiv zuschlägt. Innergesellschaftlich wird der Hass gegen den Stärkeren verdrängt und erscheint in Form massiver gewissermaßen sadistischer Grausamkeit gegen Schwächere. Diese Beschreibung trifft auf weite Teile der derzeitigen arabischen Kultur zu. Repressives Verhalten, Gewalt und Ohnmacht sind überall zu beobachten.
Trotzreaktionen gegen die Autorität, selbst politische Umstürze, sind keineswegs Zeichen der Veränderung, denn Ziel ist, die Macht zu bekommen, um mit denselben Instrumenten der Macht zu herrschen. In einem derartigen Erziehungsklima misslingt der entscheidende Entwicklungsschritt hin zur kritischen Auseinandersetzung mit den politischen Werten und sozialen Normen. Dies geschieht, weil die im Rahmen der Sozialisation erlernten Rollen tief verankert sind. Das Patriarchat wird durch diese Verinnerlichung nur in den seltensten Fällen in Frage gestellt. Dieser Sachverhalt ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass ein Zweifel am System gleichzeitig eine Identitätskrise verursachen kann. Hinzu kommt, dass durch die Erziehung eine Disponierung der Individuen zur Unterwerfung unter Autoritäten stattfindet. Hierbei wird gegenüber der elterlichen Autorität eine furchtsame Unterwerfung gelebt. Dabei muss das Kind am Fuß der Hierarchie genuine Bedürfnisse und Triebansprüche immer wieder zurückstellen. Die dennoch vorhandenen Bedürfnisse erzeugen Angst und Schuldgefühle, die wiederum Unterwürfigkeit und Abhängigkeit von der Autorität verstärken.
Die Angst vor Bestrafung durch externe Autoritäten bleibt auch im Erwachsenenalter der entscheidende Bestimmungsgrund sozialen Verhaltens. Die Unterwerfung unter die unbegriffene und unberechenbare externe Disziplin und Autorität erzeugt Ablehnung, Hass und Angst. Diese Ängste dürfen wiederum selbst nicht artikuliert werden, denn in einem Klima, das von rigider Disziplinierung und konventioneller Werteorientierung geprägt ist, würden derartige Regungen nur weitere Sanktionen nach sich ziehen. Ergänzend kann man feststellen, dass es zur Idealisierung der gesamten arabischen Kultur als identitätsstiftende Instanz kommt. Die Probleme werden auf den verschwörerischen Westen projiziert, der den Islam bzw. das Arabertum angreife. Allerdings reicht die Reaktionsbildung, die aus dem Hass die idealisierende Verehrung und die autoritäre Unterwürfigkeit werden lässt, offenbar nicht aus, die aggressiven Energien gänzlich zu absorbieren. Teile der aggressiven Regungen werden in Aggression und Gewalt umgewandelt, was dazu führt, dass diese ein Identitätsmerkmal patriarchaler Gesellschaften im Allgemeinen und der arabischer Gesellschaften im Besonderen darstellt.

Gewalt als Identitätsmerkmal


Gewalt ist ein weiteres zentrales Element, das der Grundstruktur des arabischen Patriarchats innewohnt. Dabei kann die Gewalt in diesem Fall als Ausdruck einer tiefempfundenen Ohnmacht verstanden werden. Begründen lässt sich diese Ohnmacht auf verschiedenen Ebenen, wobei die massive gesellschaftliche und strukturelle Transformation alle Ebenen betrifft. Kennzeichnend ist für alle arabischen Gesellschaften mit der entsprechenden Nuancierung die Tatsache, dass die strukturelle Transformation schneller verläuft als die kulturelle. Daraus entsteht ein Spannungsverhältnis, das Angst und Desorientierung produziert. Hier verursacht das Patriarchat Zersplitterungseffekte, die bewusst oder unbewusst übersehen werden. Auch wird die Tatsache ignoriert, dass durch die zunehmende Transformation der Gesellschaft die Mittelwahl nicht mehr akkurat ist, zumal die Komplexität der neu entstandenen Situation unmöglich vom Patriarchen überblickt, geschweige denn verstanden werden kann. Da diese Einstellung funktionsfähige Institutionen verhindert, bleibt ein Großteil der Herausforderung wenn nicht unerkannt so doch ungelöst, was die verheerende gesamtgesellschaftliche Situation zunehmend verschärft.
Gewalt drückt an dieser Stelle den Verlust von Legitimität aus beim gleichzeitigen Fehlen passender Instrumente, die es ermöglichen würden, die Veränderung nachzuvollziehen. Dabei kann die dadurch entstandene Aggression nur dann verstanden werden, wenn sie nicht als Ergebnis von Frustration, verursacht durch die Versagung ökonomischer Bedürfnisse, interpretiert wird. Bei aller Würdigung der miserablen ökonomischen Situation wird argumentiert, dass je größer die gesellschaftliche Schieflage ist, desto autoritärer sind die Strukturen innerhalb einer Gesellschaft. Eine Tatsache, die Fromm mit den Worten beschreibt:
„Je mehr umgekehrt die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft anwachsen und je unlösbarer sie werden, je blinder und unkontrollierter die gesellschaftlichen Kräfte sind, je mehr Katastrophen wie Krieg und Arbeitslosigkeit als unabwendbare Schicksalsmächte das Leben des Individuums überschatten, desto stärker und allgemeiner wird die sadomasochistische Triebstruktur und damit die autoritäre Charakterstruktur, desto mehr wird die Hingabe an das Schicksal zur obersten Tugend und zur Lust. Diese Lust macht es überhaupt erst möglich, dass die Menschen ein solches Leben gern und willig ertragen, und der Masochismus erweist sich als eine der wichtigsten psychischen Bedingungen für das Funktionieren der Gesellschaft, als ein Hauptelement des Kitts, der sie immer wieder zusammenhält.“ (Adorno 1950: Bd. 1, S. 121)