Das Kaukasus-Emirat:

Eine neue Gefahrenquelle für Europa?

Von Dr. Michail Logvinov, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden

Im Zusammenhang mit dem Anschlag auf den Bostoner Marathon vom 15. April 2013 warnte der deutsche Verfassungsschutz vor Anhängern des so genannten Kaukasus-Emirates (KE) in Deutschland. Obwohl es unmittelbar nach den Explosionen hieß, es gebe keine direkte Verbindungslinie zum Nordkaukasus, rückten 200 mutmaßliche Unterstützer der Organisation in den Fokus deutscher Ermittler. Grundsätzlich kann jedoch ein Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden. Dabei ist weder das KE eine neue Dschihad-Front noch fehlte es früher an sicherheitsrelevanten Entwicklungen in Europa wie Deutschland. 


 Einer der Ableger der Organisation in Dagestan reagierte im Anschluss an die Bostoner Anschläge mit einem Statement und behauptete, das KE kämpfe nicht gegen die USA. Gilt es womöglich auch für Europa und Deutschland? Daher sind mit Blick auf das KE einige Fragen zu beantworten: Welche Ziele verfolgt das Netzwerk? Welche Ideologie prägt seine Kämpfer? Wie kam es dazu, dass aus „Freiheitskämpfern“ und „Separatisten“ hartgesottene Dschihadisten mit überregionalen Ambitionen geworden sind? Verfolgen die regionalen Akteure auch weiterhin das Ziel, möglichst viele Zivilisten in Mitleidenschaft zu ziehen? Welche Gefahren drohen durch die Ausbreitung des Netzwerks über die regionalen Grenzen hinweg? 

Nordkaukasischer Dschihad als weißer Fleck der Sicherheitsforschung



Durch den Bombenanschlag auf den Moskauer Flughafen Domodedowo am 24. Januar 2011 und die jüngsten Anschläge in Boston rückte das Kaukasus-Emirat in den Fokus der Berichterstattung über den Islamismus im Nordkaukasus. Über das von Doku Umarow alias Abu Usman aus der Taufe gehobene Emirat liegen in Deutschland allerdings nur wenige wissenschaftliche Abhandlungen vor. Das liegt unter anderem darin begründet, dass sich in der Literatur zum Nordkaukasus Erklärungsschablonen etabliert haben, die einseitig entweder den islamistischen Akteuren oder den staatlichen russischen Geheimdiensten die Schuld zuweisen. Andere Erklärungsfaktoren werden dabei oft ausgeblendet.1 Innerhalb der Forschergemeinde ist so ein Riss in der Auseinandersetzung mit diesem regionalen Akteur entstanden. Während beispielsweise die russische Politik und Politologie bis vor kurzem primär transnationale terroristische Netzwerke für die Destabilisierung des Nordkaukasus verantwortlich machte, hebt die deutsche akademische Forschung vor allem den so genannten Co-Terrorismus in Russland hervor. Die islamistischen Akteure sowie ihre Ideologien und Motivationen fanden dabei nur selten Erwähnung. Auch wird die Rolle des fundamentalistischen Islam im tschetschenischen Unabhängigkeitskampf grob unterschätzt.2 Es ist daher im Folgenden zu fragen, welche Rolle dem Islamismus im Allgemeinen und der Ideologie des KE im Besonderen im nordkaukasischen Aufstand gegen die russischen Truppen zukommt. Im Fokus stehen dabei die Einflussnahme des KE auf dschihadistische Radikalisierungsprozesse sowie seine Etablierung als Identitätsplattform für die junge islamische Anhängerschaft.

Nordkaukasischer Aufstand auf dem Weg zum Emirat


Im Oktober 2007 hat sich der islamistische Widerstand in einem islamischen „Staat“, der weit über die Grenzen der einzelnen Republiken hinausreicht, neu formiert. Seitdem führt der Tschetschene Doku Umarow das „Emirat“ an, das zugleich als eine pankaukasische Dschihad-Front firmiert. Es ist für die Mehrheit der Anschläge in Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien, aber auch in Kernrussland verantwortlich. 
Als prägende historische Kraft im Kampf der nordkaukasischen Völker gegen die russischen Truppen kam dem Islam schon von jeher eine besondere Rolle zu. Im ersten Tschetschenien-Krieg diente er als wichtiger Mobilisierungsmechanismus für den Unabhängigkeitskampf. Ganz entscheidend war die Instrumentalisierung des Islam durch die Hauptakteure des Konflikts. Der damalige tschetschenische Präsident Dschohar Dudajew nutzte den Islam für eine nationalistische Mobilisierungskampagne. Sein islamistischer Tandempartner, Schamil Basajew, setzte sich für die islamische Agenda ein. Beiden gelang damit die Quadratur des Kreises: nationalistische Propaganda und islamistische Agenda standen vereint im Kampf gegen Moskaus Armee.3 Weder die nationalistischen Akteure noch die islamistischen „Wölfe“ kamen sich gegenseitig in die Quere – ein Zustand, der im so genannten zweiten Tschetschenien-Krieg nicht mehr möglich war. Denn in der Zwischenkriegszeit entbrannte ein Wettbewerb zwischen den tschetschenischen Nationalisten um Präsident Aslan Maschadow und dem salafistischen Projekt von Basajew und seinen arabischen Mitstreitern. Beide Lager konkurrierten um die Macht und Deutungshoheit.4 


Bild 1: „Die Löwen Tschetscheniens“: prominente Gesichter des nordkaukasischen Aufstandes

Aus dem Ringen um ideologische Führerschaft ging der dschihadistisch-salafistische Flügel als Sieger hervor. Die nationalen Säkularisten um Maschadow wurden zunehmend isoliert. In der Folgezeit ging die Auseinandersetzung zwischen den beiden „brüderlichen“ Aufstandsparteien weiter. 2002 billigte das Verteidigungskomitee Itschkeriens eine Verfassungsänderung, der zufolge Tschetschenien zu einem islamischen Staat erklärt wurde, der seine Gesetzgebung vom Koran und der Sunna ableitete. Die Islamisten hegten dabei laut Selbstbekenntnis die Hoffnung auf einen Friedensvertrag mit Moskau, weshalb sie den Präsidenten tolerierten. Die im Frühling 2005 geschaffene „Kaukasus-Front“ diente dann als Vorstufe auf dem Weg zum KE. In diesem Jahr gelang es den Aufständischen, die inneren Konflikte vorerst zu schlichten und sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen.

Ausrufung des KE


Mitte der 2000er Jahre stand der nordkaukasische Aufstand vor einem Dilemma und das KE hatte mit inneren Auseinandersetzungen zu kämpfen. Der Kern der internen Konflikte (Fitna) drehte sich um die Frage, ob der Kampf gegen Moskau Dschihad (Heiliger Krieg) sei oder nicht. Unter anderem wurde beanstandet, dass der Auseinandersetzung mit Russland die religiöse Grundlage fehle. Zudem wurde nach Dafürhalten mehrerer Emirat-Ideologen das tschetschenische Volk nicht mehr mit der Vernichtung durch Moskau bedroht. Es galt daher entweder den Dschihad einzustellen oder die „wahren Ziele“ des Kampfes zu offenbaren. Flankiert wurde die ideologische Neuausrichtung der Aufständischen durch theologische Grundsatzdebatten, in denen es vor allem darum ging, ob zuerst die Unabhängigkeit erreicht und danach die Scharia eingeführt werden sollte oder umgekehrt. In der Folge setzte sich der dschihadistische Flügel durch. Ihm gelang es, den Aufstand neu zu formieren und die jüngere Generation der Muslime anzusprechen. 2007 gilt daher als „islamistische Wende“, in dem das KE offiziell aus der Taufe gehoben wurde. 


Bild 2: Die KE-„Staatsfahne“

Im November 2007 erschien auf der Internetseite des KE ein Artikel, in dem der Vorbereitungsprozess zur Ausrufung des Emirats geschildert wird. Unter dem Titel „Emir Sejfullah über die Vorbereitung auf das Ausrufen des Kaukasus-Emirates“5 werden die größten Errungenschaften und ideologischen Prämissen des KE genannt. Als größte Errungenschaft deutet man die Ablehnung des auf der Volkssouveränität fußenden Regierungssystems, das die tschetschenische Verfassung von 1992 formell gewährleistete. „Tauhid [Glaube an die Einheit und Einzigkeit Gottes, Anm. d. Autors] – das ist das Ziel unseres Lebens, für das wir kämpfen und bereit sind zu sterben“, heißt es diesbezüglich. Die einzige Quelle der Macht sei nicht das Volk, sondern Allah als Souverän: „Menschenrechte, internationales Recht, Referendum, Meinungs- und Religionsfreiheit, Volkswille – all diese mit unserer Religion unvereinbaren Begriffe haben mit den kaukasischen Mudschaheddin nichts zu tun.“ Dem Text ist zu entnehmen, dass Umarow nahe gelegt wurde, das Emirat ohne Abstimmung mit anderen Feldkommandeuren auszurufen, da eine Abstimmung als „demokratische Neuerung unzulässig“ sei. Dieses unilaterale Vorgehen wird bei der Spaltung des Aufstandes 2010 eine wichtige Rolle spielen. 


Bild 3: „Staatsgrenze“ des Emirates


In der „Offiziellen Erklärung über die Ausrufung des Kaukasus-Emirates“ aus dem Jahr 2007 wird die radikale Ausrichtung deutlich. In dieser lehnt Umarow alles ab, was mit dem Taghut (Götzendienst) in Verbindung steht: „Ich lehne alle Kafir-Gesetze ab, die in der Welt installiert sind. Ich lehne alle Gesetze und Systeme ab, die die Ungläubigen im Kaukasus installiert haben.“ Denn es gelte, „die Ungläubigen aus dem Kaukasus zu vertreiben“ und das Territorium in das Haus des Friedens zu verwandeln. Überdies „müssen wir alle historischen islamischen Gebiete außerhalb des Nordkaukasus zurückerobern“. Umarow klassifizierte alle Nicht-Muslime als Ungläubige und gab sie als „Vernichtungsobjekte“ zum Abschuss frei. „Alle Ungläubigen sind eine Nation“, so der KE-Emir. 

Anfang Februar 2012 erschien im Internet ein Videostreifen, in dem Abu Usman den „Status“ der russischen Zivilbevölkerung änderte und befahl, von Anschlägen abzusehen, falls diese hätte Schaden nehmen können. Denn in jüngsten Protesten gegen Wahlfälschungen sah Umarow ein Zeichen dafür, dass die Bevölkerung das „tschekistische Regime Putins“ nicht unterstütze und „Geisel des selben Regimes ist, das einen brutalen Krieg gegen den Islam im Kaukasus“ führe. Daher erklärte er Sicherheitsbehörden, Regionalbeamte und „National-Verräter“ zu primären Zielen des Emirates.6 Bereits im Mai 2013 wandte sich jedoch eine Gruppe dagestanischer Kämpfer unter Umgehung ihrer Kommandostrukturen an Umarow mit dem Aufruf, das Verbot, welches den „Schahid-Operationen auf dem Territorium von Russnja“ [die abwertende Bezeichnung für Russland – M.L.] im Wege stünde, zu widerrufen. Anfang Juli 2013 hob der Emir seinen Befehl auf, „Operationen auf dem russischen Territorium durchzuführen“. Denn die Ungläubigen hätten die „Güte der Mudschaheddin“ als Zeichen der Schwäche fehlgedeutet. Zugleich gingen sie „barbarisch“ gegen die Zivilbevölkerung und in den Orten vor, wo sich Kämpfer aufhielten. Deshalb sei eine entsprechende Antwort notwendig. Man müsse dem Kreml vor Augen führen, dass die Gutherzigkeit keine Schwäche sei, so der Emir. Er rief die „Mudschaheddin“ auf, die Olympischen Winterspiele in Sotschi – „satanische Spiele“ – auf dem „Gebein unserer Vorfahren, auf den Knochen so vieler Muslime, die auf unserem Boden entlang des Schwarzen Meeres vernichtet und verbrannt wurden“ zu sabotieren und nicht zuzulassen. Somit geraten die Nichtkombattanten wieder in Gefahr durch mögliche Anschläge auf zivile Infrastrukturen. Denn eine saubere Trennung zwischen den anvisierten Zielen bzw. Opfergruppen scheint nicht mehr gewährleistet zu sein.

 

Ideologie des KE


In den westlichen Diskussionen um die Ideologie des KE werden oft Argumente ohne kritische Reflexion vorgetragen. Dabei mangelt es kaum an einschlägigen Informationen, die die unaufgeregte Wahrheitssuche ermöglichen. Zahlreiche Internetauftritte und Foren des KE legen Zeugnis davon ab, an welche Ideologie sich der kaukasische Dschihad anlehnt. Meldungen über grenzüberschreitende Bewegungen der nordkaukasischen und zentralasiatischen Kämpfer sind ebenfalls gut dokumentiert.7 So lassen sich in transnationalen Dschihad-Foren Video-Ansprachen der nordkaukasischen Kämpfer aus dem Chorasan (Afghanistan-Pakistan) finden, die ihrem Emir Unterstützung im Kampf für einen islamischen Staat im Nordkaukasus aussprechen. Auch die in Deutschland nicht unbekannte Islamische Dschihad-Union (die Auftraggeberin der Sauerland-Bomber) solidarisierte sich mit dem KE. Pressemitteilungen und Kampfberichte aus dem Nordkaukasus werden regelmäßig in transnationalen dschihadistischen Internetforen veröffentlicht. Im Dezember 2010 startete das Forum Ansar al-Mudschaheddin eine Kampagne zur Unterstützung des KE. Auch umgekehrt gilt: Inzwischen gibt es keinen nennenswerten Dschihad-Ideologen, dessen Texte in russischer Sprache online nicht verfügbar wären. 
In der internationalen Dschihad-Bewegung nahm Tschetschenien spätestens seit 2001 neben Afghanistan einen prominenten Platz ein und avancierte zu einem „Dauerthema von Qaida-Größen“.8 Propagandistisch wurde der Dschihad „zu einer zentralen Säule des Islam“ erklärt, durch den „das Herz der muslimischen Welt“ in die Frontstaaten verlagert würde.9 Als Beispiel kann ein Text von Ayman al-Zawahiri, dem Veteranen des afghanischen Dschihad, gelten: Im „Ritter unter dem Banner des Propheten“ (2001) lässt er sich über angebliche Hauptverbrecher aus, zu denen er auch Russland zählt, und ruft die internationale Dschihad-Allianz dazu auf, „sich um die kämpfenden Staaten herum zu scharen und diese zu unterstützen“.10


Bild 4: Umarow: „Diese Zivilbevölkerung schonen und nicht angreifen!“


Als historische Vorbilder des zu etablierenden pankaukasischen Gebildes fungieren hierbei die islamischen Imamate bzw. Emirate, die unter Mansur Uschurma im 18. Jahrhundert, Imam Schamil zwischen 1832 und 1859 sowie unter Scheich Usun Hadschi in den Jahren 1919 bis 1920 im Nordkaukasus bestanden hatten. Die Geschichte des nordkaukasischen Dschihad gegen das Zarenreich und die Sowjetunion gilt den KE-Ideologen als soziokulturelles Vorbild, während der Islam als das dominante Mobilisierungsmedium fungiert. Das islamistische Prinzip lautet: „Es gibt keine Religionsvielfalt, es gibt nur zwei Religionen – der Islam und das Heidentum. Ebenso gibt es keine Vielfalt von Staatsformen sondern lediglich zwei Typen – ein auf der Gottesmacht beruhender Staat und ein Staat, der auf der Macht des Taghut fußt.“11 
Entscheidend für die erfolgreiche breitenwirksame Implementierung der Trägerideologie des KE ist vor allem die aktive Einbindung der muslimischen Jugend. Für die Neuausrichtung des bewaffneten Kampfes käme ihr eine besondere Rolle zu.12 Die postsowjetischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Nordkaukasus haben für solche Argumentationsmuster anscheinend ein offenes Ohr. Einer repräsentativen Umfrage zufolge halten zwölf Prozent der Schüler und Studenten in dagestanischen Großstädten den militanten Dschihad für legitim, während sich 20 Prozent der Befragten zu den Salafisten zählen und für die Scharia aussprechen. In ländlichen Gebieten dürften die Zahlen noch etwas höher ausfallen.

KE im europäischen Kontext



Die Gefahren und Risiken für Europa wie Deutschland hängen vor allem mit möglichen Radikalisierungsprozessen in der tschetschenischen Diaspora und – aus normativer Sicht – mit der logistischen wie finanziellen Unterstützung des KE zusammen. In einer Ansprache an die Mitbürger im Ausland forderten die tschetschenischen Feldkommandeure ihre Landsleute ausdrücklich auf, den Kampf zu unterstützen. Deutsche Nachrichtendienste registrieren entsprechende Aktivitäten und steigende Anhängerschaft des KE unter den in Deutschland wohnhaften Tschetschenen. Sollen die Informationen stimmen, dass die Zahl der Asylbewerber aus Tschetschenien Mitte Juli 2013 auf 9000 gestiegen ist, wären die Bedenken der Nachrichtendienstler bezüglich möglicher Anschlagsplanungen auf deutschem Boden nicht unberechtigt.


Auch deutsche Dschihadisten sympathisier(t)en mit dem Kampf im Nordkaukasus. Mit Blick auf die Beobachtung der Radikalisierungsprozesse sowie die Verhängung und/oder Durchsetzung der Ausreiseverbote tragen deutsche Ermittlungsbehörden daher ebenfalls eine große Verantwortung. Denn die Sauerlandbomber wie die in Pakistan aktiven Bonner Islamisten Choukas hatten ursprünglich unter anderem vor, in Tschetschenien zu kämpfen, und sie sind nur zufällig bzw. zwecks Ausbildung nach Pakistan gelangt. Im Oktober 2010 mussten deutsche Ermittler gegen drei mutmaßliche Islamisten wegen Verabredung zu Terroranschlägen in Russland vorgehen. Die mobilisierende Wirkung des nordkaukasischen Aufstandes brachte bereits Anfang der 2000er Jahre deutsche Islamisten dazu, sich an bewaffneten Kämpfen im Süden Russlands zu beteiligen. So reiste 2002 eine Gruppe aus dem Umfeld des Multikulturhauses in Neu-Ulm über die Türkei nach Tschetschenien. Abgesehen von einem verschollenen Deutsch-Türken starben Mevlüt Polat, Tarek Baughdir und der deutsche Konvertit Thomas Fischer im Oktober bzw. November bei Feuergefechten in tschetschenischen Wäldern. Der erste „prominente“ Konvertit aus Deutschland mit Verbindungen zu Al-Qaida, Christian Ganczarski, wurde im Frühling 2001 mit seinen britischen Mitstreitern an der Grenze zu Tschetschenien in Gewahrsam genommen. Auch heutzutage wird der bereits seit Jahren abklingende Dschihad in Tschetschenien propagandistisch ausgeschlachtet. Die Rahmenbedingungen im Nordkaukasus haben sich jedoch gewandelt, so dass die Einreise nicht ohne Weiteres möglich bzw. deutlich aufwendiger geworden ist. Nichtsdestotrotz soll eine besondere Aufmerksamkeit den deutsch-türkisch-zentralasiatisch-nordkaukasischen Netzwerken gelten.


Bild 5: „Dschihad-Rapper“ Denis Cuspert besingt den Kampf in Tschetschenien 

Aktivitäten tschetschenischer oder allgemein russländischer KE-Unterstützer in Europa sind in den vergangenen Jahren mehrmals gemeldet worden. So verletzte sich im September 2010 ein belgischer Staatsbürger tschetschenischer Herkunft, Lors Doukaiev, in Kopenhagen bei dem Versuch, eine Bombe zu präparieren, die an die dänische Zeitung „Jyllands-Posten“ geschickt werden sollte. Doukaiev soll mehrfach zu Besuch in Deutschland gewesen sein und eine Salafisten-Gemeinde in Bremen besucht und dort übernachtet haben. Am 23. November 2010 haben die Sicherheitsbehörden der Niederlande, Deutschlands und Belgiens Mitglieder des Sharia4Belgium-Netzwerkes und eine „tschetschenische“ Zelle festgenommen. Festgehaltene waren verdächtig, Anschläge in Belgien zu planen sowie das KE finanziell zu unterstützen und Dschihadisten für den Nordkaukasus zu rekrutieren. Ein weiterer tschetschenischer Verdächtiger, Aslambek I., ging den österreichischen Ermittlern auf dem Flughafen Wien-Schwechat ins Netz. Er gilt als Anhänger von Doku Umarow und soll geplante Anschläge auf NATO-Ziele in Belgien logistisch unterstützt haben.


Darüber hinaus berichtete die tschechische Polizei Anfang Mai 2011 von einer Zelle, die in Verbindung mit dem dagestanischen Dschamaat Schariat gestanden haben soll.13 Ihre Mitglieder, die sich auf Waffenschmuggel und Fälschung von Reisedokumenten spezialisierten, sowie diejenige Personen, die über sie an falsche Identitäten gelangt seien, hätten terroristische Ausbildung im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet durchlaufen. Brisant waren Meldungen, denen zufolge die Zelle ihre Aktivitäten aus Berlin nach Prag verlagert habe und im Moment der Verhaftung einige Verdächtige in Berlin unterwegs gewesen seien. Auch in Berlin wurde ein mutmaßlicher Terrorhelfer im Juni festgenommen.14 Die Verhaftung von zwei vermutlichen Al-Qaida-Mitgliedern tschetschenischer Abstammung in Spanien 2013 reiht sich ebenfalls in die Kette beunruhigender Entwicklungen ein.
Österreichischen Sicherheitsbehörden zufolge nutzt das Kaukasus-Emirat Europa als Logistik- und Rekrutierungsraum für Terroranschläge in Russland. So wurde etwa der Anschlag auf den Moskauer Flughafen Domodedowo mit Geld finanziert, das in Europa eingetrieben wurde. Im aktualisierten Verfassungsschutzbericht heißt es unter anderem: „Aufgrund von aktuellen Ermittlungen ist jedoch bekannt, dass in Österreich lebende Tschetschenen die Auseinandersetzungen im Kaukasus bzw. den globalen Dschihad der El Kaida aktiv unterstützen bzw. teilweise auch aktiv daran teilnehmen.“15 Junge Männer aus der tschetschenischen Diaspora schließen sich verschiedenen Kampfgruppen an, um sich am Dschihad zu beteiligen. Eine in Syrien aktive dschihadistische Gruppierung, welche von einem Veteranen der Kriege im Nordkaukasus, „Abu Omar al-Schischani“, angeführt wird, schließt zahlreiche „Migranten und Unterstützer“ – auch aus dem Nordkaukasus – ein. Ein aus Kiel stammende Deutsch-Tschetschene, Aslanbek F., reiste im Dezember 2012 nach Syrien und schloss sich islamistischen Rebellen an. Ende Januar starb er bei Gefechten. Auch dem KE-Anführer fielen die Ausreisen nach Syrien negativ auf: In einer Videoansprache rief er die angehenden Gotteskrieger dazu auf, sich dem Dschihad im Nordkaukasus gegen Russland zu widmen. 
Eine weitere Gefahr für Deutschland als demokratischer Verfassungsstaat resultiert aus den Aktivitäten russischer und/oder tschetschenischer Nachrichtendienste, welche die tschetschenische Diaspora im Bundesgebiet belauern. Tötungen vermutlicher Terroristen bzw. Regimegegner im Ausland gehören laut Kritikern seit Jahren zu den Antiterror-Strategien Grosnys. Europa (und Deutschland) sind kaum vor solchen Zugriffen gefeit – diese Vermutung legt das Beispiel des in Österreich getöteten Umar Israilow nah. Von 300 Agenten Kadyrows ist inzwischen in den österreichischen Medien die Rede.16 

Fazit


Spätestens von 1999 an beinhalteten die nordkaukasischen Separatismus-Bestrebungen eine gehörige Portion Islamismus. Die Motivationslage der Kämpfer aus den Reihen des Kongresses der Völker Tschetscheniens und Dagestans, die sich dem Dschihad gegen Russland verschrieben hatten, war nach wie vor separatistisch. Das so genannte Friedenscorps des Kongresses hat eine Art unabhängigen Staat nach dem Vorbild des Imamats von Schamil auf dem Territorium der nicht anerkannten Republik Itschkerien und Dagestans durchsetzen wollen. Doch zum Gründungsprogramm gehörte ebenfalls eine ausgeprägte islamistische Agenda, die aus den Statements der Anführer nicht mehr wegzudenken war.17 
Neben dem Regionalismus kam in den Erklärungen der Aufständischen auch die internationale Komponente zum Tragen. Die Verbindungslinie zwischen den dschihadistisch-salafistischen Akteuren wie ihrer Motivation und der ideologischen Ausrichtung des KE ist somit unbestreitbar, wobei deren Ausblenden nicht nur als epistemisch fragwürdig, sondern auch als sicherheitspolitisch bedenklich erscheint. Denn das KE ist nicht nur eine Gefahr für Russland. Auch in Europa sind Radikalisierungsprozesse bereits im Gange. Die neue Strategie der Al-Qaida, militante Islamisten zu Anschlägen in den jeweiligen Wohnorten18 – wie in Boston – zu animieren, anstatt zum Auswandern in die Gebiete des Dschihad zu bewegen, verspricht diesbezüglich keine Entspannung. Im Vorfeld der Olympischen Winterspiele sind vor allem die Planungen möglicher Anschläge in Russland und deren Unterstützung aufzuklären. 

Anmerkungen
Uwe Halbach, Russlands inneres Ausland. Der Nordkaukasus als Notstandszone am Rande Europas, (Berlin: SWP-Analyse, 2010), 6. 
Symptomatisch dafür: Regina Heller, „Droht ein Flächenbrand im Nordkaukasus?“, in: Christiane Fröhlich, Margret Johannsen, Bruno Schoch, Andreas Heinemann-Grüder, Jochen Hippler (Hrsg.), Friedensgutachten 2010, (Münster, 2010), S. 249-263, hier: 258.
Auch Dudajew war nicht abgeneigt, die Mobilisierungskraft des Gazawat (des heiligen Krieges) für seine Ziele zu nutzen. So setzte er den Mufti Magomed Chusejn Alsabekov unter Druck, damit er den Dschihad gegen Russland ausruft.
Keely M. Fahoum, To Tame a Chechen Wolf: Shedding the Failing Frame of Salafism, (Monterey, 2008). 
„Emir Seifulla o podgotowke k prowozglaschenii Emirata Kavkaz“, www.kavkazcenter.com/russ/content/2007/11/20/54479.shtml, [20. November 2007].
Vgl. Michail Logvinov, „Doka Umarov: Oberegat‘ i ne trogat‘ mirnoje naselenije!“, caucasusjihad.wordpress.com/2012/02/03/doka-oberegat-ne-trogat/ [3. Februar 2012].
Gordon M. Hahn, Getting the Caucasus Emirate Right, (Washington, 2011). 
Yassin Musharbash, „Suche nach Terror-Drahtziehern. Russlands Städte im Visier“, www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,686133,00.html [29. März 2010].
Kepel Gilles, Jean-Pierre Milelli (Hrsg.): Al-Qaida. Texte des Terrors, (München, 2005), S. 369.
Exemplarisch dazu: die Internetauftritte des Velajats Dagestan (Dschamaat Shariat), Inguschetien (Hunafa) und des vereinigten Velajats von Kabarda, Balkarien und Karatschaj (IslamDin) sowie des Kaukasus-Emirates selbst (Kavkaz Center).
Ebd.
Mowladi Udugow, „Vojna idet za obraz zhizni“, unter: kavkazcenter.com/russ/content/2007/11/28/54654.shtml [28. November 2007].
Vgl. Chris Johnstone, “Czech Police pounce on Islamic ‘terrorist’ gang”, Czech Position, in: www.ceskapozice.cz/en/news/society/czech-police-pounce-islamic-%E2%80%98terrorist%E2%80%99-gang [8. Februar 2012]; “Daghestan Jamaat Support Personnel Arrested in Czech Republic”, Radio Free Europe, 3. Mai 2011, in: www.rferl.org/content/daghestan_jamaat_czech_republic/24090349.html [8. Februar 2012].
„Mutmaßlicher Terrorhelfer festgenommen“, www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/marzahn-mutmasslicher-terrorhelfer-festgenommen/4317682.html [23. Juni 2011].
Islamisten suchen Kämpfer in Österreich, unter: kurier.at/politik/weltchronik/tschetschenen-einzelne-radikale-unterstuetzen-el-kaida-islamisten-suchen-kaempfer-in-oesterreich/10.204.712 [25. April 2013].
Andreas Wetz, „Chefagent Tschetscheniens ausgewiesen“, diepresse.com/home/panorama/oesterreich/729518/Chefagent-Tschetscheniens-ausgewiesen [3. Februar 2011].
Vgl.: Paul Murphy, The Wolves of Islam: Russia and the Faces of Chechen Terror, (Dulles, 2006), 101.Vgl. den Artikel von Abu Mus’ab al Suri „The Jihadi Experinces“ in der Zeitschrift „Inspire“ (Winter 2012) bzw. sein Werk „Global Islamic Resistance Call“.