Kriminalität

Was eigentlich ist die Scharia?

– Grundzüge des Rechts und der Kultur des Islam



e) Analogieschluss

Die vierte Quelle des islamischen Rechts, der Analogieschluss (qiyas, wrtl. „Vergleich“), ist sehr umstritten. Mit qiyas ist die selbstständige Rechtsfindung der Gelehrten gemeint, die aus Bestimmungen des Korans, aus der Sunna oder dem Konsens, Regeln für all diejenigen Fälle ableitet, die zwar den konkreten Fall nicht explizit erfassen, aber Parallelen zu bereits gelösten Sachverhalten aufweisen. Der Analogieschluss ist im Verhältnis zu dem Koran, der Sunna und dem Konsens eine subsidiäre Rechtsquelle; er darf ihnen nicht widersprechen und sie auch nicht abändern. Deshalb wird er auch als eine „Verbindung zwischen der Offenbarung und dem menschlichen Verstand ('aql) bezeichnet.“ Schiiten lehnen den Analogieschluss als Rechtsquelle ganz überwiegend ab und beharren darauf, dass eine weiterführende Ausarbeitung des Gesetzes nur einem von Gott inspiriertem Imam zukommen kann. Die Schiiten rekurrieren zur Rechtsfindung auf die Vernunft ('aql), wobei der Schluss verfehlt wäre, dass sich Schiiten nur terminologisch von den Sunniten unterschieden und qiyas und 'aql im Ergebnis dasselbe Verfahren zur Lösung neuer Rechtsfälle darstellten. Vielmehr wird der Analogieschluss bei der Schia verworfen. Stattdessen wird zur Ausfüllung von Gesetzeslücken auf die Vernunft abgestellt.
Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass über die ausgeführten Rechtsquellen hinaus auch ergänzende Rechtsquellen existieren, die im Übrigen deshalb nicht näher ausgeführt werden, da Schiiten den 'ejtehad in Form von eigenem Urteil (ra'y), „Für-gut-Halten“ (istihsan) und allen anderen Ausformungen, die sich in der sunnitischen Rechtsgeschichte niedergeschlagen haben, vehement ablehnen und als nicht legitim bezeichnen.

4. Auslegungsregeln


Normen sind generell im Hinblick auf ihre zeitliche, räumliche sowie personelle Geltung stets auslegungsbedürftig, so auch die religiösen. Bei Letzteren insbesondere hat es fatale Folgen, würde man diese Normen aus ihrem Kontext und ihrer zeitlich gebundenen Deutung herauslösen und lediglich nach dem Wortlaut beurteilen, so wie es „muslimische Extremisten, ungebildete muslimische Traditionalisten und auch plump anti-islamische Propagandisten“ bisweilen in kulturübergreifenden Dimensionen tun. Denn schon früh stellten sich im Umgang mit koranischen Rechtsnormen Auslegungsprobleme dar, ließ doch der Text durch nicht eindeutige Formulierungen Fragen offen. Die Exegeten unterscheiden zwischen klaren, nicht auslegungsbedürftigen Inhalten und solchen, die diesbezüglich keine Eindeutigkeit aufweisen. Letztere bilden die große Mehrzahl der koranischen Normen.
Der Islam kennt ein ausdifferenziertes Konzept der Auslegungs- und Interpretationsmethoden (tafsir), die sich im Laufe der Jahrhunderte verfeinert haben. Die Methoden und Theorien sind im islamwissenschaftlichen Schrifttum dargelegt. An dieser Stelle sollen allein die Grundzüge der Auslegungsmethoden als Basis für das Verständnis der hermeneutischen Koraninterpretation der Gelehrten nachgezeichnet werden, welche – inspiriert von klassischen Auslegungsmethoden – für eine grundsätzliche Anpassung der Normen an veränderte Bedingungen eintreten.
Nach diesen einführenden Worten sind nun folgende Auslegungsmethoden zu nennen:
Koranlesung (qira'at), Erörterung von historischen Anlässen, die zur Offenbarung bestimmter Verse geführt haben (asbab al-nuzul) sowie die Abrogation (al-nasikh wa-l-mansukh). Während die Koranlesung (qira'at) dem Wesen nach mit der im deutschen Recht bekannten Auslegungsmethode des Wortlauts vergleichbar ist, kann die an den Offenbarungsgründen orientierte Auslegungsmethode mit der historischen Auslegungsmethode nur insoweit verglichen werden, als dass der Blick auf die Offenbarung heiliger Texte gerichtet ist und auch historische Zusammenhänge für das Verständnis der Normen aufgegriffen werden. Schließlich ist die Aufhebung älterer Normen durch neuere (Abrogation, arab. al-nasikh wa-l-mansukh) eine der Sache nach sowohl dem deutschen als auch dem internationalen Recht bekannte Rechtsfigur der materiellen Derogation.
Gegenwärtig eröffnet zunächst die historische Auslegung Möglichkeiten zur hermeneutischen Betrachtungsweise, die gegen unzeitgemäße Auslegungen des Korans etwa zulasten von Frauenrechten dienstbar gemacht werden. Relevant sind hierbei Verse, die Bezug auf Frauen nehmen und gemäß historischer Auslegung als Antworten auf damalige Probleme verstanden werden können, aus orthodoxer Sicht jedoch auf heutige Sachverhalte bezogen werden. Über die historische Auslegung hinaus erweist sich die Auslegungsmethode der Abrogation (al-nasikh wa-l-mansukh) als besonders ertragreich für zeitgemäße Auslegung koranischer Normen, und zwar wenn Konkurrenzfragen zwischen Versen mit voneinander abweichendem Inhalt zu lösen waren. Die Problematik von Versen, deren Aussagen sich widersprechen, wird durch das Dogma der naskh-Regel gelöst, wonach spätere Versen die vorherigen außer Kraft setzen bzw. abrogieren.
Trotz der Existenz der beachtlichen naskh-Lehre haben die Erben des Traditionalismus versucht, progressiven Interpreten jeglichen Spielraum zu nehmen, wenngleich die Debatten über das Wesen und die Bedeutung des Korans keineswegs als abgeschlossen gelten können.
Beispiel 1: Die Haltung des Korans zum Weingenuss und zum Glücksspiel unterliegt im Laufe der Zeit Änderungen, die bis hin zum Verbot reichen. Anfangs sei die Offenbarung neutral gewesen (Sure?2:219), ein paar Jahre später wurden Weingenuss und Glücksspiel zwar nicht dezidiert verboten, jedoch der Verzicht auf das Glückspiel wurde empfohlen und es galt die Empfehlung, nicht betrunken zum Gebet zu kommen (Sure?4:43). Kurz darauf, wohl aufgrund fehlender Bindungswirkung der Norm, wurden beide Handlungen als Satanswerk und größte Sünde verboten (Sure?5:90). Jedenfalls die Kernaussage dieser Betrachtungsweise ist eindeutig. Es werde unmissverständlich bekundet, dass die Offenbarung des unveränderlichen, ewigen Gottes doch veränderlich sei.
Beispiel 2: Ähnlich in den historischen Kontext verortet ist die Aufforderung zur Bekämpfung bzw. Tötung von Heuchlern, wie sie in Sure?4:88 gefordert wird. Insbesondere die kämpferisch formulierte Aufforderung in Sure?2:193 „und kämpft gegen sie, bis niemand mehr versucht, Gläubige zum Abfall vom Islam zu verführen, und bis nur Gott verehrt wird“ kann die hermeneutische Auslegung in einer sehr wichtigen Frage anschaulich machen. Denn zwar werden diese Verse als Rechtfertigung für die Apostasiestrafe herangezogen. Nach der entsprechenden Auslegung anhand der Offenbarungsgründe (asbab al-nuzul) wird von hermeneutisch denkenden Gelehrten darauf hingewiesen, dass diese Verse als rein historische, an bestimmte militärische Auseinandersetzungen gebundene anzusehen sind. Die vermeintlich eindeutige Aufforderung in Sure?2:193, die auf den ersten Blick dahin gehend interpretiert werden könnte, dass Muslime für alle Zeiten die Pflicht hätten, Ungläubige zu bekämpfen bzw. zum Islam zu bekehren, wird als ausschließlich gültig für ein historisches Ereignis, nämlich die Schlacht von al-Hudaybiyya, verstanden.
Weiterhin betonen Feministinnen, dass es in der islamischen Theologie (dem sog. kalam) allgemeine Rechtssätze (lex generalis) und spezielle Rechtssätze (lex specialis) gibt. Danach existieren im Koran generalisierende Texte, die die Geschlechtergleichheit aufzeigen, aber auch Texte, die an einen spezifischen Kontext gebunden sind und lediglich aktuelle Beispiele des Umgangs mit Frauen aus der Verkündungszeit liefern. Nun generalisieren die Traditionalisten die lex specialis und deuteten die kontextgebundenen historischen Beispiele in allgemeingültige Regeln um und ließen dabei die entstandenen Widersprüche, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten unbeantwortet.
Nach dem Gesagten könnte argumentiert werden, dass, wenn selbst die Offenbarung als Grundgesetz des islamischen Rechts im Rahmen einer rationalen Koranexegese als zeitgebunden betrachtet werden darf, dies erst recht für die 'hadithe des Propheten gelten muss, denen quasi der Charakter einfachgesetzlicher Normen zukommt. Damit wäre die theoretische Öffnung der Dogmatik für zeitgemäße Veränderungen hinsichtlich der Frauenrechte gegeben. Bekräftigt wird eine solche Sichtweise dadurch, dass die islamische Rechtswissenschaft im Laufe der Geschichte immer im Sinne einer rationalen Erkenntnis und nicht als eine religiös-geistliche Disziplin verstanden wurde. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass sich Entwicklungen und Differenzen im Laufe der Geschichte bei mannigfaltigen, falsifizierbaren und von logischer Beweisführung und gegebenen Tatsachen abhängigen Urteilen der Rechtsgelehrten (sogar innerhalb einer Generation) gezeigt haben. So etwas wäre nicht möglich gewesen, wenn es keine Dynamik der islamischen Rechtslehre gegeben hätte, da religiös-geistliche Größen in der Regel fest und unveränderbar sind. So treten auch schiitische Gelehrte und Denker heute für eine hermeneutische, die historische Dimension betrachtende Lesart der Offenbarungstexte ein. Sie versuchten, die Scharia mit modernen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten in Einklang zu bringen.

Zusammenfassung


Es ließe sich festhalten, dass Schiiten und Sunniten den Koran als authentische und primäre Rechtsquelle betrachten, im Übrigen aber gravierende Unterschiede im Hinblick auf die weiteren Rechtsquellen aufweisen, weshalb ihr Normenmaterial nicht kongruent ist. Weiterhin wird bei Schiiten die Analogie durch Vernunft ('aql) ersetzt; der Analogieschluss scheidet somit als Rechtsquelle für Schiiten aus. Besonders relevant für einen zeitgemäßen Umgang mit Rechtsnormen ist die im schiitischen Islam sehr bedeutsame selbstständige Bemühung ('ejtehad) der Rechtsgelehrten, da die selbstständige Rechtsfindung nach der herrschenden Meinung der Schiiten jedenfalls mehrheitlich als nicht beendet gilt.
Das islamische Recht schiitischer Prägung gewinnt dadurch Spielräume für die Interpretation der Normen und neuer Sachverhalte. Das Prinzip 'ejtehad verleiht der Rechtsfindung bei grundsätzlicher Bejahung islamischer Grundsätze einen dynamischen Charakter. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass die Spannung zwischen idealtypischer Scharia und der materiellen Rechtswirklichkeit kein neuzeitliches Phänomen ist und schon immer eine Herausforderung der islamischen Geschichte darstellte. Folgte man diesem Ansatz, so wäre eine zeitgemäße Änderung der Normen möglich.

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