Kriminalität

Was eigentlich ist die Scharia?

– Grundzüge des Rechts und der Kultur des Islam



b) Sunna: Stellenwert und Bindungskraft


Der arabische Begriff sunna (wrtl. „beschreitbarer Weg“) erklärt im Allgemeinen eine vorbildliche Lebensweise, der andere folgen sollen. Die Sunna wurde vom Koran als ergänzende bzw. erläuternde Rechtsquelle anerkannt. Schon zu Lebzeiten des Propheten richteten die Gläubigen ihr Handeln nach seinem Vorbild aus, wobei das Konzept der Sunna auf vorislamische Zeit zurückgeht.
Die Autorität der Sunna beruht darauf, dass göttliche Ge- und Verbote exemplarisch im Handeln, Reden oder konkludenten Einverständnis des Propheten („heilige Gewohnheit“) ihren Niederschlag gefunden haben. Muhammad gilt im Hinblick auf die genannten Verhaltensmodalitäten als unfehlbar. Daher haben die Gläubigen in den Fällen, die Muhammad in der einen oder anderen Weise entschieden hat, keine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit mehr. Die Handlungsweisen des Propheten sollten auch nach seinem Tod durch eine Sammlung für kommende Generationen sicher gestellt werden. Für Schiiten gelten neben der Tradition des Propheten auch die der zwölf Imame als verbindlich. Denn die Imame zeichnen sich über die sittlich-moralische Unfehlbarkeit durch eine umfassende Kenntnis der Scharia aus.
Nachfolgend seien einige Begriffserklärungen angebracht, um das Konzept der Sunna besser einordnen zu können. Ein Bericht über die prophetische bzw. heilige Handlungsweise wird im Arabischen mit hadith (wrtl. „Gesagtes“) bezeichnet. Es handelt sich um eine Erzählung, welche die Modalitäten des prophetischen Handelns im Bezug auf den Koran, also dessen Anweisungen, Verordnungen, Wertungen und Stellungnahmen zu Lebens- und Rechtsfragen wiedergibt. Mit anderen Worten ist eine Sunna ein Usus, welcher den Korantext gleichsam erklärt. Ein Hadith ist hingegen die Überlieferung eines solchen Usus. Er unterliegt bestimmten Tradierungsanforderungen, um als echt betrachtet werden zu können. Für Schiiten besteht das Authentizitätskriterium eines gültigen Hadiths aus zwei Aspekten: tradierter Text (matn) und Tradentenkette (isnad). Unter dem Text ist die jeweilige überlieferte Aussage des Propheten zu verstehen. Die Tradentenkette ist eine lückenlose Kette von Gewährsmännern, durch welche der Text bis zum Propheten und für Schiiten zusätzlich bis zu den Imamen zurückreichend tradiert wurde. Dabei ist nicht der Text das Echtheitskriterium, sondern das frei von chronologischen Widersprüchen übermittelte Wissen unbescholtener Gewährsmänner. Somit ist die Tradentenkette das Echtheitskriterium einer Sunna. Mit anderen Worten bedeutet es, dass in einer lückenlosen Kette von Gewährsmännern bis zum Propheten Muhammad bzw. zu einem Imam tradiert wird, sodass das übermittelte Wissen zweifelsfrei auf diese Personen zurückführbar ist. Liegen die genannten Anforderungen vor, so gilt eine Sunna als erhärtet und somit normativ bindend.
Insgesamt ist festzuhalten, dass es sich um einen Konkretisierungsprozess der göttlichen Offenbarung handelt, welcher im Korantext festgeschrieben und im Usus des Propheten leibhaftig wird sowie schließlich durch Erzählungen an spätere Generationen weitergegeben wird. An die überlieferte Erzählung werden strenge Maßstäbe angelegt, will sie Geltung beanspruchen.
Die Frage des Rangverhältnisses der Sunna zum Koran ist indes klar geregelt. Der Sunna wird anders als dem Koran teilweise keine oder jedenfalls nur eine begrenzte normative Kraft als akzessorische Rechtsquelle zuerkannt. Die herrschende Meinung lässt jedoch der Sunna eine starke Rolle als Rechtsquelle zukommen, wenn erstens die einschlägige Überlieferung als authentisch erwiesen ist, zweitens die Materie nicht im Koran geregelt ist und auch nicht gegen dessen zwingende Normen verstößt sowie schließlich drittens keine banale, sondern eine religiöse Materie betrifft.

c) Konsens

Aus der Notwendigkeit zur Rechtsfindung durch die Rechtsprechung der Rechtsgelehrten einer Generation ist gemäß der usul al-fiqh-Lehre die den Primärquellen nachgeordnete Rechtsquelle des Konsens der Gemeinschaft (ijma' = consensus doctorum) entstanden. Die Rechtsgültigkeit dieser Rechtsquelle wird aus dem einem Hadith des Propheten abgeleitet: „Meine Gemeinde wird nie in einem Irrtum übereinstimmen.“ Dennoch herrscht in den islamischen Rechtsschulen keine Einigkeit über die Bedeutung bzw. normative Wirkungskraft dieser Rechtsquelle. Während sunnitische Rechtsschulen seit jeher über die begriffliche Bedeutung, wird der Konsens in der Gestalt des sunnitischen Lehrverständnisses von schiitischen Rechtsschulen abgelehnt. Darin besteht im Übrigen der juristische Hauptunterschied der beiden Richtungen. Lassen nämlich die Sunniten mit dem Konsens eine Übereinkunft der Menschen als Rechtsquelle gelten, so fordern Schiiten darüber hinaus, dass der Einfluss des „Unfehlbaren“ auf die Entscheidung ersichtlich ist, um ihr normative Kraft zuzusprechen. Es wird gefordert, dass der schiitische Konsens, in zahllosen Einzelüberlieferungen, die ihn bekräftigen, in irgendeiner Form die Meinung eines unfehlbaren Imams zutage treten muss.
Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass dem Prinzip der persönlichen Bemühung des Gelehrten im Sinne der selbstständigen Urteilsfindung durch einen kompetenten religiösen Rechtsgelehrten in der schiitischen Rechts- und Urteilsfindung hohe Bedeutung beigemessen wird. Der folgende Exkurs soll diese wichtige Doktrin in Grundzügen wiedergeben, da ihr als Kernstück für hermeneutische Betrachtungen islamischer Normen eine immense Bedeutung zukommt.

d) Exkurs: Die Doktrin des 'ejtehad als Prinzip der Rechtsfindung

'Ejtehad, das Prinzip der „Bemühung“ (arab. ijtihad) hat insbesondere in der schiitischen Doktrin der usuli-Schule seit dem 18. Jahrhundert zu einer Dynamisierung der schiitischen Lehre geführt. Das Prinzip des 'ejtehad wurde bei den Schiiten notwendig, als der zwölfte Imam im Jahre?874 in die Verborgenheit entrückte und damit ein Vakuum in der legislativen, exekutiven und religionsrechtlichen schiitischen Führung entstand.
Die mit dem Titel 'mojtahed versehenen Rechtsgelehrten bestimmten unter Zuhilfenahme des 'ejtehad die Aspekte der privaten und sozialen Lebensführung der „einfachen“ Gläubigen. Denn die theologisch nicht qualifizierten Gläubigen sind ihrerseits zur Befolgung bzw. Nachahmung (taqlid) des von ihnen gewählten 'mojtahed (auch marja'-e taqlid „Quelle der Nachahmung“ genannt) verpflichtet.
In diesem Sinne wird der 'ejtehad in der Islamwissenschaft unzweifelhaft als Inbegriff des schiitischen Rechtsetzungsverfahrens bezeichnet. Doch sollte das schiitische Dogma nicht wegen seiner im Vergleich mit dem sunnitischen Dogma interpretativen Offenheit bezüglich der heiligen Texte idealisiert werden. Auch in der Schia sind Ansichten vorzufinden, wonach die Möglichkeit des 'ejtehad nicht mehr vorhanden sei – man spricht gar vom „verschlossenen Tor“ zum 'ejtehad.
Die Autorität des 'mojtahed kommt darin zum Ausdruck, dass ihm eine individuelle Interpretationsbemühung des islamischen Rechts immer dann obliegt, wenn als authentisch anerkannte 'hadithe einander widersprechen bzw. mit Aussagen des Korans im Widerspruch scheinen. Wird der Mojtahed bei seiner Suche nach Lösungen anhand der Primärquellen nicht fündig, so kann er kraft seiner Autorität als marja'-e taqlid (wrtl. „Quelle der Nachahmung“) den Sachverhalt nach eigenem Urteil bzw. eigener Meinung (ra'y) entscheiden.
Die Untersuchung der Usul-Werke – sowohl schiitischer als auch sunnitischer – ergibt, dass der Begriff 'ejtehad explizit auf zwei, ineinander fließenden Bedeutungsebenen verwendet wird. Auf einer allgemeinen Ebene bedeutet 'ejtehad für Schiiten wie Sunniten „das größtmögliche Bemühen um die Ermittlung der Schariaregeln“ gleichsam als der Prozess der Rechtsfindung (Rechtsquelle) schlechthin, wobei bereits hier darüber gestritten wird, welche Methoden unter 'ejtehad subsumierbar sind. Die zweite Bedeutungsebene betrifft den 'ejtehad als eine Rechtsfindungsmethode neben den Primärquellen und dem Konsens, wenn die konkret zu beantwortende Frage weder im Text (nass) behandelt wurde noch Gegenstand eines Konsenses darstellt.
Insgesamt kann konstatiert werden, dass das Wesen des islamischen Rechts durch das dynamische Zusammenspiel der Einbeziehung des menschlichen Denkens und des Hervorhebens der Vernunft ('aql) gekennzeichnet ist. Dies schafft die Möglichkeit, den sich ständig verändernden Bedingungen der Gesellschaft flexibel anzunehmen und sie islamgerecht zu harmonisieren.