Kriminalität

Was eigentlich ist die Scharia?

– Grundzüge des Rechts und der Kultur des Islam



b) Handlungskategorien

Das islamische Recht unterteilt die menschlichen Handlungen in fünf solche Kategorien:
Fard/wagib (Obligatorisch) bezeichnet eine Pflicht. Sie zu erfüllen, wird belohnt und ihre Unterlassung zieht Strafe nach sich.Mandub bezeichnet eine Empfehlung. Während die Tat belohnt wird, bedeutet ihre Unterlassung jedoch keine Strafe.
Mubah charakterisiert eine sittlich neutrale Handlung. Weder wird ihr Vollbringen belohnt, noch ihre Unterlassung bestraft.
Makruh ist eine Tat dann, wenn ihre Unterlassung belohnt, ihr Vollzug aber nicht bestraft wird.
Haram bezeichnet ein klares Verbot. Die Unterlassung wird belohnt, während der Vollzug bestraft wird.

Lohn und Strafe beziehen sich dabei auch auf außerweltliche Kategorien, denn nicht alles, was haram ist, wird vom Richter mit Strafe belegt, insbesondere dann nicht, wenn ein Verstoß die Rechte Gottes und nicht diejenigen eines anderen Menschen verletzt. Da nach islamischer Überzeugung nur Gott das souveräne Urteil über alles menschliche Handeln besitzt, streben die Gelehrten die Annäherung an den offenbarten göttlichen Willen an.
Die islamische Orthodoxie kennt große und kleine Sünden. Aus dem Quran wird jedoch nicht deutlich, was man als große und was man als kleine Sünden betrachten kann. Allerdings gilt seit Ghazzali (1059 – 1111 n.Chr.), dass am schwersten die Sünden gegen Gott und gegen den Glauben sind, dann folgen die Sünden, die sich gegen das Leben des Menschen und schließlich diejenigen, die sich gegen die Mittel, die das Leben ermöglichen, richten. Der Quran berichtet davon, dass die Taten der Menschen auf eine Waage gelegt werden. Dabei wird stets von der Barmherzigkeit Gottes und von seiner Bereitschaft, alle Sünden der Menschen zu vergeben, berichtet. Bedingung für die Erlangung der göttlichen Vergebung ist in erster Linie der Glaube. Beim Gericht werden jedoch Unterschiede gemacht, sodass mit einigen scharf abgerechnet wird, anderen wird Mitleid gezeigt, einige treten ohne Abrechnung ins Paradies. Alle Bekenner von Gottes Einheit kommen, nachdem sie für ihre Taten gebüßt haben, schließlich ins Paradies. Muslime glauben, dass Propheten und andere gute Menschen für sie Fürsprache bei Gott einlegen können.

c) Privatrechtliche Handlungen

Unter mu'amelat werden privatrechtlich geregelte Handlungen verstanden, welche grundsätzlich der staatlichen Autorität und ihrer Intervention unterworfen sind. Denn das islamische Recht bleibt trotz seiner starken Bindung an religiöse Wurzeln nicht in den ethisch-moralischen Dimensionen der Pflichtbefolgung verhaftet und sieht die Falllösung als soziales und historisches Faktum an. Moral und Recht berühren sich zwar, vermengen sich aber nicht. Im Unterschied zur 'ebadat-Regeln ist den mu'amelat-Regeln in erster Linie eine diesseitige Rechtsverbindlichkeit bzw. Rechtsverantwortung eigen, wonach die Zwecksetzung der Normen maßgeblich ist. Das islamische Recht ist daher insbesondere im Bereich des Zivilrechts auch weltliches Recht, da die Fallentscheidungen nach allgemeingültigen objektiven Regeln durchgeführt werden. Die Kernvorschriften von 'ebadat und mu'amelat verletzen nach der hermeneutischen Auffassung weder die Interessen heutiger Muslime noch stehen sie mit Prinzipien der Vernunft im Widerspruch. Die Normen und die danach ergangenen Urteile in diesen beiden Gebieten stünden demnach mit den in der Rechtswissenschaft anerkannten fünf Grundzielen religiösen Handels, namentlich Schutz der Religion, der Vernunft, der Familie, des Eigentums und des Lebens, im Einklang.

d) Öffentliches Recht

Siyasat (wrtl. »Politik«) betrifft das Verhältnis zwischen Staat und Individuum, worin staatsbezogene Handlungen und Sanktionen geregelt sind. Damit entspricht es in etwa dem öffentlichen Recht. Siyasat ist als eine dem Herrscher überlassene Regelungsbefugnis zu verstehen, die sich auf die Materien bezieht, die in der Scharia nicht ausdrücklich geregelt sind. Sie umfasst Gesetze und Verordnungen, ohne dabei unmittelbar den Anforderungen der Scharia zu unterliegen. Zu konstatieren ist, dass das göttliche Recht zwar verbindliche Maßstäbe für das Verhalten der Muslime setzt, die jedoch abgesehen von den Regeln der 'ebadat zur Disposition des weltlichen Gesetzgebers stehen und im Sinne der Vernunft veränderbar sind. Regeln des öffentlichen Rechts könnten im Wege des Vorrangs der Gerechtigkeit und Vernunft veränderten Lebensbedingungen Rechnung tragend neu definiert werden. Festzuhalten bleibt, dass siyasat-Normen in den iranischen Debatten viel Kritik erfahren, die unter anderem auch einfachgesetzliche Normen in Bezug auf Frauen betreffen.

3. Quellen des islamischen Rechts


In der islamischen Rechtswissenschaft werden formelle Grundlagen (usul al-din) und materielle Bestimmungen (furu' al-din) unterschieden. Im Folgenden werden die formellen Grundlagen erörtert, welche die islamischen Rechtsgelehrten (arab. faqih, pl. fuqaha') für die Würdigung juristischer Sachverhalte heranziehen.
Das islamische Recht basiert nach der klassischen Theorie von den usul al-fiqh auf vier HauptrechtsquellenKoranSunna (Tradition des Propheten), Konsens und Analogieschluss. Die Rechtssatzbildung gilt sowohl beim Koran als auch bei der Sunna als abgeschlossen. Innerhalb der islamischen Normenhierarchie beanspruchen die überlieferten Rechtsquellen (Entscheidungs- und Erkenntnisquelle) Koran und Sunna unmittelbare Geltung und gehen den auf intellektuellen Operationen basieren Sekundärquellen Gelehrtenkonsens und Analogieschluss vor. Denn als unmittelbares Wort Gottes sind Koran und auch die Sunna der Interpretation nicht zugänglich, so das traditionelle Verständnis. Schöpferische Interpretation als intellektuelle menschliche Leistung wird nach diesem Verständnis bei den nachgeordneten Rechtsquellen, die als menschliche „Produkte“ gelten, gestattet.
Die islamische Rechtswissenschaft weist mit anderen Worten eine strukturelle Einteilung auf, die im Kern auf Prinzipien des Korans und der Sunna zurückgeht, diese jedoch ausweitet bzw. konkretisiert. Im Folgenden werden die einzelnen Quellen in der gebotenen Intensität betrachtet, wobei der primäre Schwerpunkt auf die Darstellung der traditionellen Sicht liegen soll.

a) Koran: Stellenwert und Inhalte

Der Koran gilt nach herrschender sunnitischer und schiitischer Meinung als die ranghöchste Quelle des islamischen Rechts, worin alle wesentlichen Fragen des menschlichen Lebens einer religiös-rechtlichen Wertung unterzogen werden. Er wird in erster Linie als eine göttliche Offenbarung verstanden, welche theologische Fragen neben kultischen und rechtlichen Anweisungen beinhaltet. Der Koran gilt hinsichtlich des menschlichen Handelns zugleich als rechtliche Wegweisung bzw. Kanon von gesetzlichen Bestimmungen mit absoluter und zeitloser Verbindlichkeit aus sich heraus; das Buch bedarf keines Transformationsprozesses in das säkulare Recht oder auch in das religiöse Recht. Es ist kein corpus iuris oder gar ein universelles Gesetzbuch der Muslime. Denn nur eine Minderzahl der Normen des islamischen Rechts lässt sich unmittelbar auf den Koran zurückführen.
Nach dem muslimischen Glauben beinhaltet der Koran das an Muhammad gesandte Wort Gottes, das durch den Erzengel Gabriel in einem Zeitraum von zwanzig Jahren dem Propheten zuteil wurde. Der Koran besteht demnach vollständig aus geoffenbartem göttlichem Recht und weist keine Bestandteile ius humanum auf.
Der Koran ist ein religiöses Buch, indem eine Doktrin von Geboten zwischen Gott und Menschen in 114 Kapiteln, genannt Suren, ausgeführt ist. Die Suren sind wiederum in etwa 6000 Verse (Ayat: arab. Zeichen Gottes) untergegliedert. Die Suren sind nicht thematisch, sondern nach ihrer Länge hintereinander angeordnet. Einzige Ausnahme von diesem Prinzip bildet die Eröffnungssure (al-Fatiha), die aufgrund ihres zentralen theologischen Gehalts am Anfang steht. Unterschieden werden theologische Aussagen (etwa die Josefsgeschichte oder ethische Regelungen) und gesetzliche Regelungen. Die überwiegende Zahl der Verse betrifft jedoch Vorgaben des rituellen Rechts ('ebadat).
Mit anderen Worten: Von den 6200 Versen des Qurans haben etwa 550 einen normativen Charakter, die größtenteils kultische Vorschriften für das Gebet, das Fasten und die Pilgerfahrt enthalten.
Die Regelungen des weltlichen Rechts, insbesondere Normen für die Regulation sozialer Beziehungen (mu'amelat) fallen indes zahlenmäßig deutlich geringer aus, insgesamt ca. 80:
Zehn Verse regeln das Erbrecht, rund dreißig befassen sich mit Strafrecht und fünfzehn mit dem Prozessrecht.
Für das Eherecht werden siebenunddreißig, für das Kauf-, Handels- und Wirtschaftsrecht insgesamt elf Verse gezählt.
Zehn Verse sind mit Fragen der staatlichen Ordnung (gleichsam Verfassungsrecht) befasst und fünfundzwanzig können als „internationales Recht im weiteren Sinne“ bezeichnet werden, da sie die (Rechts-)Beziehungen zu ausländischen Staaten betreffen.

Dennoch wird der Koran heute gelegentlich als Grundgesetz des islamischen Rechts bezeichnet. Dies ist insofern nachvollziehbar, da rechtliche Regelungen im Koran naturgemäß nur als grundlegende Basisnormen festgelegt sein können. Der Koran wird zum Teil als eine lebendige Schrift bezeichnet, die im Rahmen der sozialen Lebenswirklichkeit der Gemeinschaft der Gläubigen (umma) stetig weiterentwickelt und ihren Anforderungen angepasst wurde: Selbst ein flüchtiger Blick auf die Entstehung der Scharia zeuge davon, dass sich das Gesetz und die Offenbarung stets in Harmonie mit der islamischen Gemeinschaft entwickelt hätten. Der Koran verkünde zwar eindeutig ewige Botschaften, diese seien jedoch als Antworten auf ganz bestimmte historische Umstände zu begreifen, da sich die Offenbarung mit der Ausbreitung der Gemeinde gewandelt habe, um neuen Gegebenheiten gerecht zu werden.
Diese vermeintlich vorhandene Klarheit koranischer Texte steht jedoch konträr zu Debatten und auch Realität in islamischen Ländern. Angesichts der intensiven Diskussionen über die Vereinbarkeit der Aussagen des Korans mit den Errungenschaften der Moderne wie Demokratie und Menschenrechte sind daran große Zweifel angebracht. An dieser Stelle soll nur festgehalten werden, dass die hermeneutische Betrachtungsweise des religiösen Rechts sogar im Hinblick auf den Koran eine theoretische Basis für die Entwicklung des Rechts zur Verfügung stellt, wenn auch die tatsächliche Durchsetzung dieser Denkschulen nach wie vor in der gesamten islamischen Welt Hemmnissen ausgesetzt ist.