Kriminalität

Zum Verhältnis von Islam und politischer Herrschaft

Der islamische Staat – ein aktuelle Debatte


Die Grundlage des islamischen Staates basiert auf dem universalistischen Anspruch und der Absolutheit der göttlichen Wahrheit. Das impliziert, dass die Hakimiya/Herrschaft ausschließlich vom einzigen Souverän getragen wird, so dass das Prinzip der Hakimiyat Allah21/Gottesherrschaft eine der wichtigsten Säulen der islamischen Ordnung darstellt. Hierin wird Gott als die einzige legitime rechtsetzende Instanz verstanden, in der er sich durch die Offenbarung und die darin beschriebenen Gesetze für alle Zeiten geäußert hat. Diese Gesetze sind Bestandteil der Schari´a. Aus der Offenbarung sollen somit alle Rechtsprinzipien abgeleitet werden. Der Moslem hat sich diesen unterzuordnen.22 Hier baut der politische Islam eine Brücke zum orthodoxen Islam auf, die sich in Bezug auf die Einheit Gottes äußert, aus der jedoch ein politisches Konzept entwickelt wird, das alle Bereiche des Lebens auf der Grundlage religiöser Regeln strukturiert und bestimmt. Es handelt sich um eine Basis politischen Denkens, die sich gegen jegliche menschlich-philosophisch anmutende politische Ordnung stellt, die Gott nicht im Zentrum ihrer Gedanken hat. Der Islam ist genauso ein Widersacher des Unglaubens, wie der politische Islam ein Widersacher der auf das Prinzip der Volkssouveränität bauenden Demokratie ist, schrieb Sayyid Qutb.23 Die Politisierung religiöser Inhalte vereinfacht die Strukturen gesellschaftlicher Interaktionen und reduziert sie auf einen stetigen Kampf zwischen Gut und Böse. Ein dichotomes Denkmuster entsteht, das uns immer wieder bei der Analyse des Phänomens begegnet. Die Anhänger Gottes sind die Kämpfer für das Gute und ordnen ihr Leben nach den von Gott geoffenbarten Regeln und Gesetzen. Ihr einziger Souverän ist Gott. Die anderen, nämlich die Ungläubigen, erkennen menschliche Gesetze an, die von irdischen Souveränen gemacht werden.24 Somit definiert der politische Islam ideologisch zwei Entitäten: die Hizbollah/Partei Gottes, die aus den Anhängern der Einheit Gottes besteht und die Hizb al-shaitan/Partei des Teufels, die aus all denjenigen besteht, die nicht getreu den Gottesgesetzen und Vorgaben leben. Dabei kann es sich um Individuen, Kollektive oder gar politische Systeme handeln. 

Staat und Herrschaft im politischen Islam – die sunnitische Spielart


Als Maßstab für die Einordnung und Unterscheidung dient abstrakt der Glaube an die Einheit Gottes, was sich in der Realität durch die Umsetzung von vermeintlichen Gottesgesetzen ausdrückt. Sowohl al-Banna als auch al-Maududi betonen die Unmöglichkeit der Koexistenz beider Entitäten in einem politischen System, denn dies würde den göttlichen Auftrag der Da´wa/Mission nicht nur verhindern, vielmehr erschwere dies den Kampf gegen das Böse.25 Dieser ist allerdings in Zeiten sich ausbreitender Djahiliya umso aktueller geworden, insbesondere weil die beanspruchte Führungsrolle spätestens seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und dem damit verbundenen Niedergang des Kalifats sichtlich verloren gegangen ist.26 Aus den Ausführungen wird deutlich, dass die Weltanschauung des politischen Islam eine dualistische Weltsicht darstellt, die die menschliche Geschichte als einen permanenten Kampf zwischen Gut und Böse interpretiert. Diese Weltanschauung ist jedoch keine Erfindung der Islamisten, vielmehr betonen sie konsequent grundsätzliche Annahmen des orthodoxen Islams. Sie politisieren diese Annahmen und machen sie zu absoluten Leitlinien einer Ideologie. 
Aus der Perspektive des politischen Islam gilt es mittelfristig, den Nationalstaat im Djihad zu bekämpfen, um die wahre Trennungslinie zwischen Glauben und Unglauben wiederherzustellen. Die geographische Grenze, die dem Konzept des Nationalstaates innewohnt, wonach die Bevölkerung durch ethnische oder ideologische Bindungen, Sprache, Institutionen und Werte wahrgenommen wird, soll dem Islam fremd sein. Die Idee von der Nation ist nach islamistischer Überzeugung eine zerstörerische und daher abzulehnende Ideologie. Weiter wird angeführt, dass es sich hierbei um ein Werk von Ungläubigen handelt, die durch die Zergliederung der muslimischen Umma in Völker und Stämme, das Ziel verfolgten diese zu beherrschen. Denn, so wird argumentiert, als die Welle des Nationalismus die Türken, Araber, Perser und andere Völker erreicht habe, wurde die islamische Bindungskraft zu Gunsten jener Ideologie zerstört und die Muslime geschwächt. Demzufolge richtet sich der Kampf gegen den Westen auch und ganz besonders gegen den Nationalstaat.
Dabei wird die islamische Geschichte, in der seit dem Tode des Propheten Mohammad bis in die Gegenwart Kriege innerhalb des Islam, die die Rechtsgelehrten mit Fitna27 beschreiben, zu finden sind, ausgeblendet. Dem wird das islamische Konzept der Umma/Gemeinschaft aller Muslime entgegengesetzt, das seinerseits auf dem Einheitsprinzip fußt. Es ist eine weltanschauliche Bindung, die in der Aqida/Glaube28 begründet wird, die das Fundament des neuen islamischen Staates bildet. Die Grundlage dieses Staates ist nicht das säkulare Recht, sondern das religiöse Gesetz.29 In der theoretischen Konstruktion gehört jeder, der sich zum „wahren Islam“ bekennt, zum islamischen Staat. Alle Muslime sollen eine Solidargemeinschaft darstellen, die sich Gottesrecht unterordnet. Damit entscheidet die religiöse Zugehörigkeit über den rechtlichen Status der Menschen. Die rechtliche Gleichheit aller Bürger im Verhältnis zum Staat und zu anderen Individuen, die den modernen Nationalstaat kennzeichnet, wird hierbei komplett aufgehoben. Dies impliziert die Ablehnung der Idee von der Volkssouveränität, die wichtigste Legitimationsbasis des modernen Nationalstaates. Vertreter des politischen Islam, aber auch weite Teile der islamischen Orthodoxie, lehnen dieses Prinzip kategorisch ab, mit der Begründung, dass nur Gott der Souverän sein kann. Folglich werden Gesetze aus der Offenbarung abgeleitet und durch die Schari´a formuliert. 
Was die Vertreter des politischen Islam besonders beunruhigt, ist die stetige Orientierung islamischer Gesellschaften an westlichen Lebensarten. So beanstanden sie die Übernahme westlicher Wissenschaften, Wirtschaftsmodelle und gar politischer Strukturen und behaupten, dass dies die Unterentwicklung dieser Gesellschaften festigt.30 Dabei hätten die Muslime die Aufgabe, die Menschheit zu retten und sich nicht in diese aktuell vorherrschenden Systeme zu integrieren. Die vehemente Ablehnung weltlicher „Politiken“ und die Bereitschaft, das eigene Leben und die Umwelt nach Gottesgesetzen zu organisieren bei gleichzeitigem Drang der Ausweitung dieser Gesetze in Form von Da´wa/Mission kennzeichnen den wahren Gläubigen und beschreiben die Hauptfunktion eines islamischen Staates. Wobei jeder, der 

„Übel und Chaos effektiv von der Erde bannen will [...] verschwendet seine Zeit nutzlos, solange er sich auf bloßes Predigen beschränkt. Er sollte stattdessen aufstehen und alles tun, um die Regierung, die nach falschen Prinzipien handelt zu Ende zu bringen, sollte die Macht aus den Händen der Übeltäter an sich reißen und eine Regierung erstellen, die auf korrekten Prinzipien aufbaut und das richtige System befolgt.“31


Diese „korrekten Prinzipien“ sind die religiösen Normen und Gesetze, die in der Schari´a beschrieben werden. Wer nicht danach strebt, ist ein Kafir/Ungläubiger, der sich anmaßt, Gesetze schaffen zu können. Das steht jedoch nur Gott zu.
An dieser Stelle hebt sich die Salafiyya insofern von den Gedanken Maududis und Syyid Qutb ab, als dass sie es gemäß den oben zitierten Lehren von Ibn Taymiyya für unislamisch halten, gegen die politische Autorität vorzugehen. Die Salafiyya lehnt ebenfalls die Vorstellung ab, dass Menschen sich selbst Gesetze geben können, denn sie seien nicht fähig, die langfristigen Auswirkungen solcher Gesetze zu ermessen. Daher sollten sich Muslime am Asl32/Fundament orientieren, was durch die offenbarte Shari´a seinen Ausdruck bekommen hat. Nur dadurch können sie die Djahiliya von sich abwenden und ihre Unterentwicklung überwinden. Die Mittel hierfür wurden im islamistischen Konzept ebenfalls durch die göttliche Offenbarung bestimmt. So wird der Djihad als eine vielfältige, fast allumfassende Möglichkeit interpretiert, die oben beschriebene Djahiliya zu bekämpfen. Zentraler Gedanke hierbei ist, dass der Djihad ein Wesensmerkmal des Islam ist und damit eine individuelle Pflicht darstellt. So ist der Djihad fi sabil Allah/Kampf auf dem Pfad Gottes eine moralisch-religiöse Verpflichtung, der jeder Muslim nachzugehen hat.33 Prinzipiell stimmt dieser Gedanke mit den Vorstellungen der Orthodoxen überein, denn diese sehen das Ziel des Djihads in der Festigung des Anspruches Gottes auf Erden und der Ablehnung und Bekämpfung anderer Gottheiten.34 Es soll nicht allgemein eine Gleichstellung des Djihad-Begriffe in der Orthodoxie und in der Salafiyya impliziert werden, jedoch kann man trotz aller Differenzierung und trotz Würdigung der tatsächlichen Vielfältigkeit des Islam in seiner 14 Jahrhunderte langen Geschichte stets radikale Elemente entdecken, die den Djihad als einen eindeutigen Auftrag Gottes betrachten, für den Glauben in den Kampf zu ziehen. Hierauf bauende Ideologien sind kein gänzlich neues Phänomen. So sind die Kharijiten im siebten Jahrhundert, die Schriften von Ibn Taymiya im dreizehnten Jahrhundert und die Wahhabiten-Bewegung im achtzehnten Jahrhundert als eindeutige Beispiele zu nennen.
Die Salafiyya als eine Sonderform des politischen Islam vertritt den Ansatz, dass Muslime zu den Fundamenten des Islam, d.h. zum unverfälschten Islam, wie ihn Mohammad gelehrt hatte, zurückkehren müsse, wenn sie wieder erfolgreich sein wollten, wie ihre Vorfahren unter Mohammad und in der Frühzeit des Islam. In Bezug auf die Staatsorganisation impliziert dies, dass wenn der Islam die einzig wahre Religion ist, so muss auch das auf ihm basierende Ordnungssystem das einzig wahre und folglich den anderen möglichen Modellen weitaus überlegene sein. Damit distanzieren sich Vertreter der Salafiyya Konsequent von jeder nicht auf dem Islam basierenden politischen Grundordnung. So werden wichtige Grundlagen der Demokratie als Shirk/Beigesellung abgelehnt. Die vornehmste Aufgabe der Herrschaft ist hierbei die Durchsetzung des göttlichen Rechts und die Fortführung der Da´wa. Als moralische Orientierung und religiös verpflichtende Vorgabe dient hierbei das Wirken des Propheten und die Organisation der jungen islamischen Gemeinde in Medina des 7. Jahrhunderts.