Kriminalität

Zum Verhältnis von Islam und politischer Herrschaft

Herrschaftskonzeptionen – zwischen Philosophie und Theologie


Ein Blick in die politische Theorie bei islamischen Philosophenund Rechtsgelehrten macht deutlich, dass sie bei der Formulierung ihrer Theoreme in Bezug auf Herrschaft und Herrschaftslegitimation sehr beeinflusst waren von den politischen und gesellschaftlichen Konstellationen, die ihre jeweilige Zeit geprägt haben. 
Islamische Philosophen wie al Farabi5, Ibn Rushd6, Ibn Sina, Ibn Khaldun sowie religiöse Gelehrte wie al-Mawardi, al- Ghazali und Ibn Taymiyya bieten die Basis der meisten islamisch begründeten Visionen politischer Herrschaft der heutigen Zeit.7 Reformorientierte und sich der Demokratie verpflichtende Debatten beziehen sich oft auf die Frühislamische Geschichte in Kombination mit den Ausführungen der islamischen Philosophie. Währenddessen beziehen sich die Vertreter einer theokratisch bestimmten Herrschaftsform auf die theologischen Ausarbeitungen in Kombination mit einer staatszentrienten Leseart der frühislamischen Geschichte. Mit anderen Worten prägen Diskurse und Debatten, die in der Zeit der Omayyaden- und der Abbasidendynastien vom 7. Jahrhundert bis zum 12. Jahrhundert geführt worden sind, den aktuellen politischen Diskurs. 
Ibn Khaldun argumentiert, dass die grundlegenden Ursachen geschichtlicher Entwicklung in den gesellschaftlichen und sozialen Strukturen gesucht werden müssen.8 Er folgte dem Grundsatz, dass das Beobachtbare Rückschlüsse auf den Wahrheitsgehalt gibt, während das, was mit der Empirie nicht übereinstimmt, verworfen werden muss. Aufbauend auf dieser Grundlage entwickelte er in seiner Muqaddima/Einführung in die Weltgeschichte9 den Kreislauf vom Aufstieg und Zerfall der Zivilisationen.10 Bezüglich des Staates beschreibt er die Integration politischer, sozialer und wirtschaftlicher Faktoren als Grundlagen seiner Funktion. Für ihn sind gute Finanzen und die Gewährung der öffentlichen Sicherheit eine unabdingbare Voraussetzung für eine gute Regierungsführung. Ibn Khaldun verlangt, dass die natürlichen Anlagen der Menschen respektiert werden und sie deswegen nicht überfordert werden sollen. Als Theoretiker stellt er fest, dass die Entwicklung von Herrschaft und Staaten höchst unterschiedlich verlaufen kann. Je nachdem wie sich das politische System gegenüber Wirtschaft, Religion sowie gesellschaftlichen Gruppen verhält, kann dieses fortexistieren oder nicht. Er veranschaulicht dies anhand seiner Abhandlung über die Auswirkung hoher Steuern und plädiert dafür, dass diese als Voraussetzung für eine florierende Wirtschaft niedrig gehalten werden. Ibn Khaldun argumentierte, dass der Staat durch eine Kraft gehalten wird, die er ‘asabiya/Esprit de Corps nennt. Demnach hängt der Zusammenhalt einer Gesellschaft vom Wertebewusstsein einer Zivilisation, also von der auf ihrer Weltanschauung aufbauenden Solidarität ab. Auch für Ibn Khaldun unterstützt in diesem Sinne die Religion den Staatszusammenhalt entscheidend. In seiner Abhandlung stellt er fest, dass der Staat fünf Phasen durchläuft:11

  • gemeinschaftlicher Sieg 
  • Konsolidierung der Macht
  • Ruhm
  • Zufriedenheit und Nachahmung
  • Vergeudung und Verschwendung.

Je nachdem wie stark die ´asabiya ausgebildet ist, verhält es sich mit der Verweichlichung der Menschen, davon hängen die Stärke der Staatsmacht ab und somit ihre Fähigkeit Ordnung durchzusetzen und damit für Sicherheit zu sorgen. Inspiriert von Platons Staat beschäftigte sich auch der islamische Philosoph Ibn Rushd mit gesellschaftlichen Entwicklungen und der Bedeutung des Staates.12 
Auch mit Bezug auf Platon billigt Al-Farabi in seiner Abhandlung „al-madina al- fadila“13 dem Herrscher die Abänderung von religiösen Gesetzen zu. Hierbei distanzieren sich beide von der islamischen Vorstellung, wonach die Legitimation der Herrschaft des Sultans auf der Grundlage einer metaphysischen Weltvorstellung geschieht, wie dies beispielsweise al Ghazali tut. Die islamischen Rationalisten „glauben nicht, dass das Kalifat authentisch religiös islamisch ist.“14 Tatsächlich kennt die islamische Tradition in der praktischen Herrschaftsausübung das Istihsan als Methode des Herrschers weltliche Gesetze, die alleine auf seinem Willen beruhen, zu verabschieden, um auf eine gesellschafts- oder machtpolitische Situation reagieren zu können. Derartige Vorschriften „ wurden zunächst gewöhnlich in die Scharia aufgenommen, durch Vermittlung der Sunna oder auch auf Grund juristischer Überlegungen.“15 Das politische Erstarken der Rechtgelehrten und die zunehmende Schwächung der Philosophie seit der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts führten zur Beendigung dieser Praxis, was sicherlich mit der zunehmenden Kodifizierung der Sunna und Hadithe in Zusammenhang stand. Die Bedeutung der islamischen Philosophen ergibt sich aus ihren stetigen Versuchen, einen auf Recht beruhenden Staat zu entwerfen. Dabei bedienten sie sich nicht ausschließlich genuin islamischen Quellen, vielmehr schufen sie eine Brücke in die griechische Philosophie. Dies taten sie als gläubige Muslime, die von der Existenz Gottes und der Prophetie Mohammads überzeugt waren. Der von ihnen entworfene Staat sollte sowohl die von Gott gewollte gerechte Ordnung darstellen, als auch Platz für die geistige Freiheit seiner Bewohner einräumen. Darin sahen sie keinen Widerspruch zur Offenbarung.
Für al Ghazali16 ist ein starker Sultan, der seine Herrschaft auf dem quranischen Vers: „Gehorcht Gott und dem Propheten und denjenigen von euch, welche die Macht besitzen“17 gründet, sehr zentral. Diese Koranstelle unterstreicht durchaus die Hierarchie von göttlicher Allmacht gegenüber der Macht unter den Menschen. Wenn man bedenkt, dass Islam nicht nur „Hingabe“ an Gott, sondern zugleich bedingungslose „Unterwerfung“ unter Seinen Willen bedeutet, so hat der politische Führer die Aufgabe, diesen Willen zu durchsetzen. Entsprechend beruht al Ghazalis Theorie auf der Annahme, dass die ideale Gemeinschaft diejenige ist, die sich dem islamischen Herrscher unterordnet. Er erklärt die Bedeutung des Verses „Gehorcht Gott und dem Propheten und denjenigen von euch, welche die Macht besitzen“ als Gehorsam gegenüber Gott, dem Propheten und den Emiren, d.h. den faktischen Herrschern. Somit hat der Sultan göttlichen Glanz, und ihm ist als dem Gotterwählten Gehorsam zu leisten. Die erwähnte Koranstelle bildet auch für al- Mawardi die Grundlage zur koranischen Herleitung des Kalifats und wird von den islamischen Gelehrten, insbesondere im Sunnitentum, herangezogen, um die Schari´a als endgültige und autoritative Rechtsquelle zu bestimmen. Die Wechselwirkung zwischen Politik und Religion ergibt sich hierbei aus der Vorstellung, dass nur ein starker Sultan ein Garant für die Durchsetzung der Schari´a sein kann. Die Schari´a steht im Mittelpunkt, denn: “the obligation of the Shari‘ah is to provide the well-being of all mankind, which lies in safeguarding their faith, their human self (nafs), their intellect (‘aql), their progeny (nasl) and their wealth (mal).”18
Ibn Taymiya betont, dass irgendein Herrscher immer noch besser als Aufruhr und Chaos sei. Selbst wenn die Herrschaft nicht religiös legitimiert sei, so sei diese notwendig zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Die Machtausübung und die Unterordnung sind somit religiöse Pflichten, durch die der Mensch Gott näher kommt.19 Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass Ibn Taymiya eine säkulare Herrschaft akzeptieren würde, vielmehr gilt für ihn die frühislamische Gemeinde als die ideale islamische Gemeinschaft. Die Muslime müssen sich daran orientieren und ihren Staat entsprechend aufbauen, denn die Verbindung von Religion und Staat ist dem Islam inne. Er begründet dies damit, dass es ohne den Staat nicht möglich sei, die Normen der Religion durchzusetzen. Damit hat der Staat für Ibn Taymiya die Funktion, der Religion zum Sieg zu verhelfen, denn ohne Religion würden Tyrannei und Willkür die Oberhand gewinnen. Nur innerhalb eines solchen Staates ist es möglich, dass der von Natur aus schwache Mensch dazu angehalten wird, den Gesetzen Gottes zu folgen. Hier stehen erneut die Gesetze Gottes im Mittelpunkt.20 Ibn Taymiyas Schriften sind zentral für den islamischen Fundamentalismus. 
Die moderne westliche Staatlichkeit basiert auf der Volkssouveränität, die auch als Basis für die Gewährung von Sicherheit dient, während die islamischen Gelehrten Gott als einziger absoluter Souverän durch seine Offenbarung die Schari´a als Grundlage der Staatlichkeit festlegte. Die westliche neuzeitliche Staatsphilosophie begründet den Staat immer weltlich, während die islamische Philosophie den Gottesbezug betont. Aus diesem Unterschied entstehen viele Schwierigkeiten hinsichtlich der Kompatibilität westlicher Ideen mit dem islamischen politischen Denken. Ist der souveräne Staat in der westlichen Ideengeschichte Träger und Garant von Sicherheit, so ist die Erfüllung und Durchsetzung des Gesetzes Gottes die Hauptfunktion des islamischen Staates. Legitimiert sich die Staatsmacht im Westen auf der Grundlage der Volkssouveränität, so ist in der islamischen Zivilisation Gott der einzige Souverän. Sein Wille muss geschehen, dies zu erfüllen ist die Funktion des politischen Herrschers. Der Staat muss nach außen hin die Mission vorantreiben, um das Wort Gottes und die Schari´a zur Geltung zu bringen. Damit ist der islamische Staat prinzipiell expansiv angelegt. Der Staat als souveräne politische Ordnungseinheit, die Wohlfahrt und gesellschaftlichen Frieden organisiert, ist zwar der islamischen Philosophie nicht fremd, jedoch wurden seine Hauptverfechter isoliert. Der religiöse Diskurs gewann die Oberhand.