Kriminalität

Banker oder Geldräuber

Strafbare Bereicherung oder riskante Geschäftsführung?

III. Systemgefährdung als straflose Geschäftsführung 


Die anhaltende und großflächige Finanz- und Wirtschaftskrise hat zu der verblüfften und verblüffenden Wahrnehmung geführt, dass die Gefährdung einer systemrelevanten Bank kein Straftatbestand ist. Unbestreitbar ist aber, dass etwas Schlimmes geschieht, wenn die Banken, die unser Geld betreuen, es wegnehmen, es verlieren und dann aufgrund einer staatlichen Garantie nicht bestraft werden. 
Manche Strafrechtler in Deutschland tragen in jüngerer Zeit vor, dass es sich bei der Finanzkrise nach 2008 nicht um ein Systemversagen, sondern um Taten handele, die nach Gesetz und Rechtsprechung strafbar seien, möglicherweise in der Form einer global organisierten Kriminalität. 
Bei der strafrechtlichen Einordnung von umfangreichen Wirtschafts- und Finanzkrisen dürfte es in der Tat um etwas Prinzipielleres gehen als um das Fortschreiben einer überkommenen sorgsamen strafrechtlichen Berufsmäßigkeit. Es handelt sich womöglich nicht nur um eine Machtprobe. In neueren Überlegungen wird behauptet, Strafrecht könne umfängliches individuelles wirtschaftliches Versagen als „politische Wirtschaftsstraftat“ identifizieren und seine Arbeitsmöglichkeiten dieser Erscheinungsform der Kriminalität anpassen. Wir reden also über die strafrechtlichen Reaktionen auf politisch mächtige, den einzelnen Bürger schädigende Wirtschaftsverläufe. 
Am Anfang stehen Zweifel, ob ein verselbständigter mächtiger Teil der Gesellschaft – die Träger des Wirtschafts- und Finanzsystems – jemals ohne massiven Widerstand eine Beurteilung durch das Strafrecht zulassen wird. Das ist ein Problem der Verfassung der freiheitssichernden Demokratie, ein politisches Problem. Als politische Wirtschaftsstraftat bezeichnet insbesondere der deutsche Strafrechtler Naucke jene Wirtschaftsstraftat, die zerstörend auf die persönliche Freiheit und auf die freiheitsschützenden Institutionen wirkt.
Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob mit der Verabschiedung eines „Artikelgesetzes“ zur Änderung des Kreditwesengesetzes (KWG) sowie des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) am 17. Mai 2013 durch den Deutschen Bundestag ein Silberstreifen am Horizont entstanden ist. 
Art. 1 dieses Gesetzes hat Änderungen des KWG hinsichtlich der Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten zum Gegenstand. Art. 2 betrifft weitere Änderungen des KWG hinsichtlich der Abschirmung von Risiken. Art. 3 betrifft neue Vorschriften im KWG zur Strafbarkeit von Geschäftsleitern von Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten, während durch Art. 4 des Gesetzentwurfs vergleichbare Strafvorschriften in das VAG eingefügt wurden.
Der zentrale Gedanke der strafrechtlichen Teile (Art. 3 und Art. 4) ist die Strafbarkeit von Pflichtverletzungen der Geschäftsführer im Risikomanagement. Neben den angedeuteten Bedenken sind dagegen weitere massive verfassungsrechtliche und strafrechtspolitische Einwände vorgetragen worden. 
Der Gesetzesinitiative lag zwar augenscheinlich die verbreitete Vorstellung zugrunde, dass jede tatsächliche oder vermeintliche gesellschaftliche Fehlentwicklung, insbesondere im Wirtschaftsleben, mit Hilfe des nur als „ultima ratio“ legitimen Strafrechts korrigiert werden könne. Es liegt aber möglicherweise ein Irrtum vor, wenn man glaubte, dass etwaige Mängel im System der durchaus bereits mit empfindlichen Sanktionsbefugnissen ausgestatten Banken- und Versicherungsaufsicht dadurch auszugleichen wären, dass man noch zusätzlich die Staatsanwaltschaften auf den Plan ruft. Der Gesetzentwurf entspricht nach Einschätzungen aus Anwaltskreisen nicht dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot. Er enthalte zahlreiche Verweisungen auf das sich permanent ändernde deutsche und europäische Aufsichtsrecht, verwende ausufernd unbestimmte Rechtsbegriffe, sei außergewöhnlich komplex und erlaube dem Normadressat nicht vorherzusehen, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. 
Durch die Bezugnahme auf besonders lange Pflichtenkataloge, die ihrerseits mit einer Fülle von „weichen und unbestimmten“ Begriffen und Formulierungen versehen seien, gewönnen die Strafnormen nicht an Kontur und Vorhersehbarkeit. Es sei mit dem Bestimmtheitsverbot auch unvereinbar, dass die außerstrafrechtliche Pflicht für Geschäftsleiter, ein wirksames Risikomanagement sicherzustellen, in das Strafrecht „eins zu eins“ übertragen werden sollte, ohne dass der Gesetzentwurf hierfür irgendwelche inhaltlich-qualitativen Vorgaben definiert. 
Im Unterschied zum bisher bekannten „Blankettstrafrecht“ (z. B. das Wertpapierhandels- oder Umweltstrafrecht) knüpften die Strafvorschriften nicht an gesetzlich verankerte Standards an, sondern überließen die inhaltliche Ausgestaltung des Risikomanagements allein den Geschäftsleitern und nachträglich den Strafgerichten. 
Es gibt die Befürchtung, dass es zu einer faktischen Beweislastumkehr hinsichtlich der Einhaltung der Organisationsverantwortung und der Sicherstellungspflichten kommt, die mit der strafrechtlichen Unschuldsvermutung unvereinbar wäre. 
Begriffe wie „Strategien, Prozesse, Gesamtziele, konsistente Risikostrategie, Risikosituation, betriebsinterne Erfordernisse, zeitkritische Aktivitäten“, etc. hält man zudem für vollkommen konturlos und denkbar unbestimmt. Das Strafrecht lebe aber von der Präzision seiner Begriffe, die zugleich seine Berechenbarkeit ausmache und dadurch eine nicht zu unterschätzende freiheitsschützende Wirkung (Art. 102 Abs. 2 GG) entfalte. Die in der Entwurfsfassung (§25c Abs. 3a KWG-E und § 64a VAG-E) verwendeten Begriffe werden dieser Anforderung nicht gerecht, da ihnen jegliche Umgrenzungsfunktion und Vorhersehbarkeit fehlt. Auch das in § 54a KWG-E enthaltene Tatbestandsmerkmal „Bestandsgefährdung des Instituts oder der Gruppe“ bedürfe weiterer gesetzlicher Klarstellung.
Insgesamt handele es sich bei den neuen Strafvorschriften um „abstrakte Gefährdungsdelikte“, nach denen eine als Unterlassung („nicht sicherstellt“) beschriebene Tathandlung eine abstrakte Gefahr für das von den Strafvorschriften geschützte Rechtsgut bewirkt. Dabei lassen die vorgesehenen Straftatbestände aber nicht zweifelsfrei erkennen, welches Rechtsgut überhaupt geschützt werden soll („Stabilität des Finanzsystems und Vermeidung von Nachteilen für die Gesamtwirtschaft“; „Schutz der anvertrauten Vermögenswerte und der ordnungsgemäßen Durchführung der Bank- und Versicherungsgeschäfte und Finanzdienstleistungen“). Wollte man darin die geschützten Rechtsgüter sehen, sei die Einstufung als abstrakte Gefährdungsdelikte irreführend, weil die Bestandsgefährdung des einzelnen Instituts bzw. die Gefährdung der dauernden Erfüllbarkeit der Versicherungsverträge in jedem Fall bereits eine konkrete Gefahr darstellen würde. Erst in einer mit der Bestandsgefährdung eines einzelnen Instituts möglicherweise ausgelösten Beeinträchtigung des gesamten Finanzsystems („Systemgefährdung“) läge gegebenenfalls auch eine abstrakte Gefahr. 
Damit handelt es sich um eine im bisherigen Rechtssystem beispiellose Kombination aus konkreten (bezogen auf das eigene Institut des Täters) und abstrakten (bezogen auf das jeweilige – globale? – Finanzsystem) Gefährdungsdelikt. 
Mit der Einrichtung einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit (§ 54a Abs. 2 KWG-E sowie § 142 Abs. 2 VAG-E) griff der Gesetzgeber sogar auf die bislang kaum anzutreffende Deliktskategorie des fahrlässigen Gefährdungsdelikts zurück. 
Die kritische Stellungnahme der deutschen Anwaltschaft spricht von einem Novum, das in seiner strafrechtsdogmatischen und kriminalpolitischen Legitimation nicht einmal in Ansätzen durchdacht sei. In der Herbeiführung einer bloßen – wenn auch konkreten – Gefahr durch fahrlässiges Unterlassen und der darauf aufbauenden Verursachung einer weitergehenden und auch auf andere Objekte bezogenen abstrakten Gefährdung läge eine Art „gefährdungsqualifiziertes Unterlassungsdelikt“.
Die mangelnde Delegationsmöglichkeit und Aufteilbarkeit der Sicherstellungspflichten der die Gesamtverantwortung tragenden Geschäftsleiter könnte faktisch zur Abschaffung des Prinzips der arbeitsteiligen Ressortverantwortung führen und damit im Wege einer stellvertretenden Schuldzuschreibung eine strafrechtliche „Gesamthaftung“ aller Geschäftsleiter für Versäumnisse Einzelner etablieren. Das hat die Rechtsprechung zwar nach langem Zögern angenommen, aber auf ein unmittelbares Verletzungsdelikt (z. B. Körperverletzung) bezogen, und zwar vor dem Hintergrund von deutlich erkennbaren Anhaltspunkten für konkrete Gesundheitsschädigungen. 
Das Gesetz läuft hingegen auf eine permanente strafrechtliche Gefährdungshaftung sowie auf eine Kollektivschuld von arbeitsteilig organisierten Geschäftsführungsgremien hinaus. Dies dürfte mit dem Schuldprinzip kaum vereinbar sein.
Darüber hinaus werden den Geschäftsleitern Pflichten auferlegt, die sie in bestimmten Situationen unmöglich erfüllen könnten. Das Risikomanagement ist gerade wegen seiner vielfältigen außerstrafrechtlichen Regeln und Anforderungen ab einem gewissen Geschäftsvolumen eine das betreffende Ressort vollständig ausfüllende Aufgabe. Man hält die Erwartung, dass sich jedes Vorstandsmitglied neben seinen übrigen, nicht weniger gewichtigen Ressortaufgaben so intensiv mit dem Risikomanagement beschäftigen könnte, wie das vom Gesetzgeber vorgesehen wird, für „schlicht unrealistisch“. Eine Strafbewehrung ist daher womöglich gar nicht angebracht. 
Schließlich besteht auch noch die Besorgnis, dass die neuen Strafvorschriften wegen ihrer Komplexität gar nicht justitiabel sind.