Kriminalität

Zum Verhältnis von Islam und politischer Herrschaft

Fazit


Im Diskurs über Islam und Herrschaft ist es wichtig Begriffe mit Inhalt zu füllen. Wenn vom Staat gesprochen wird, wird oft das westliche Staatsverständnis als Basis zugrundegelegt. Es ist jedoch so, dass in der islamischen Zivilisation der Staat theoretisch eine andere Funktion erfüllt als der westliche Staat. Durch die Expansion der Europäer wurde der moderne Staat auch in die islamische Welt getragen. Die ihm zugrundeliegenden Ideen wurden dort jedoch nicht verinnerlicht. Politische Ideen entspringen einer vorherrschenden Weltanschauung. Der Nationalstaat, der auf dem Prinzip der Volkssouveränität basiert, ist von diesem Grundsatz her mit dem Islam in seiner orthodoxen Form nicht vereinbar. Nach islamischem Glauben kommt weder dem einzelnen Menschen noch einer politischen Gruppe Souveränität zu. Der einzige Souverän ist Gott. Auch wenn der Koran keine konkrete Staatsform definiert, wurde aus den religiösen Quellen durch die islamischen Gelehrten spätestens mit der Manifestierung der Omayyadendynastie eine Herrschaftsform abgeleitet, die bis heute das religiöse Denken prägt und die Grundlage eines islamischen Staatsverständnisses darstellt.Die Autorität des Kalifen gründet auf der uneingeschränkten Souveränität Gottes. Der Kalif leitet die Umma und ist gleichzeitig Stellvertreter des Propheten. Das Verhältnis des Herrscher zu seiner Bevölkerung wird entlang religiöser Kategorien definiert: Er ist Hirte und kann Gehorsam und Unterordnung abverlangen. Dies zu leisten ist wiederum Gottesdienst. Die islamische Orthodoxie kennt das Konzept der Bürgerschaft nicht und bestimmt das Verhältnis des Individuums zum Staat entlang seiner Religionszugehörigkeit. Das von den Islamisten erneut angestrebte Kalifat mit seinem universalen Anspruch leitet sich hiervon ab.61 Der heutige Islamismus entwirft eine Gegengesellschaft, die sich am Kalifat der Periode der rechtgeleiteten Kalifen orientiert, in der Religion und Politik in vollem Einklang zueinander stehen. 
In der Auseinandersetzung zwischen Philosophen und Ahl al-hadith/Traditionarier obsiegten letztere. Ihr schärfster Vertreter Ibn Hanbal propagierte vorwurfsvoll im 9. Jahrhundert als Reaktion auf die Philosophie der Mu‘tazila, sie würde dem Verstand Vorrang gegenüber der Tradition geben. Diese Vernunftfeindlichkeit in Bezug auf die Auslegung des Korans und das starre und weitestgehend unkritische Festhalten an der Tradition prägen auch heute das islamische Denken und die religiöse Praxis. Ibn Hanbal lehnte die Kultur der Mehrdeutigkeit ab. Bis heute haben sich innerhalb der islamischen Theologie kaum Stimmen durchgesetzt, die dem erfolgreich entgegentreten können. Die Rückkopplung an die goldene Zeit der islamischen Philosophie scheint auf dem ersten Blick erfolgversprechend zu sein, jedoch sind zeitgenössische Vertreter eher eine kleine Gruppe. Die Mehrheit der muslimischen politischen Elite fordert eher eine engere Orientierung an den Quellen des Islams gemäß orthodoxer Auslegung bei der Gestaltung des politischen. Eine säkulare politische Ordnung im politischen Diskurs islamischer Eliten ist kaum vorhanden. 

Anmerkungen
Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft, Übersetzung und Kommentar des Werkes von Ali Abd ar-Raziq, Hans-Georg Ebert/Assem Hefny, Seite 93
Der Hadith wurde in der Sammlung von Al Bukhari, bei Moslim und bei Ahmad Ibn Hanbal (7160) überliefert.
At-Tabari (o.D.): Jami al Bayan an taewil al Quran (Zusammenfassung der Erläuterungen zur Interpretation der Koranverse), Herausgegeben und Kommentiert von Schakir, Ahmad Mohammad (2000), Beirut, S.
Anawati, Marie-Marcel (1959): Philosophie médiévale en terre d‘Islam, Kairo.
al Farabi, Abu Nasr (Walzer, Richard, übersetzt (1998)): On the Perfect State (Mabadi ara al madina al fadila), Chicago.
Averroes (Rosenthal, Erwin, übersetzt (1956)): Commentary on Plato’s Republic, Cambridge.
Vgl. Lipson, Leslie (1993): The Ethical Crises of Civilization, London: Sage, S. 62; Tibi, Bassam (1993): Politisches Denken im klassischen Islam, in Piepers Handbuch der politischen Ideen, 5 Bände, München, hier Band 2, S. 87-140; Hourani, Albert H. (2001): Geschichte der arabischen Völker, Frankfurt am Main; Watt, William Montgomery (1972): The Influence of Islam on Medieval Europe. Edinburgh.
Talbi, M. (1986): Ibn Khaldun, in Lewis, Bernard, et al. (Hrsg.): The Encyclopaedia of Islam. Volume III, Leiden, S. 825-831. Vgl. auch Nasser, N. (1997): La pensé réaliste d´Ibn Khaldoun, Paris. Auch Sayah, J. (2000): Philosophie politique de l´islam. L´idée de l´Etat, de Ibn Khaldoun á aujourd´hui, Paris.
Ibn-Khaldun’s Muqaddima in der englischen Übersetzung von F. Rosenthal ist 1989 erschienen bei Princeton University Press, Princeton.
Ibn Khaldun schreibt im Bezug auf die im Rahmen seiner Muqaddima beabsichtigten Gründung einer neuen Wissenschaft: „es ist dies gleichsam eine in sich selbständige Wissenschaft, denn sie hat ein Objekt, und das ist die menschliche Kultur und die menschliche Gesellung; sie hat Frage(stellungen), und sie erklärt die Zustände, die mit dem Wesen (dieser Kultur) zusammenhängen, einen nach dem anderen. So ist es mit jeder Wissenschaft, die sich auf eine Autorität oder den Verstand gründet.“ Vgl. hierzu Schimmel, A. (1951): Ibn Khaldun. Ausgewählte Abschnitte aus der Muqaddima, Tübingen, S. 11f.
Vgl. Schimmel, A. (1951): Ibn Chaldun. Ausgewählte Abschnitte aus der Muqaddima. Tübingen, S. 92-94.
Ibn Rushd (1180): Tahafuth Al-Tahafuth [Destructio destructionis]. 2. Auflage Beirut 1982, sowie ders (1995): Kitab fasl al-maqal wa-taqrir ma bayn al-shari´a wa-hikam min al-ittial [Buch über die Beziehung zwischen Schari´a und Philosophie], 2. Auflage Beirut.
al-Farabi, Abu Nasr (o.D.): al-Madina al-fadila (der Musterstaat), Neudruck Beirut 1982.
Tibi, Bassam (1996): Das arabische Staatensystem. Ein regionales Subsystem der Weltpolitik, Mannheim, S. 83.
Kummerer, Christian (1989): Der Fürst als Gesetzgeber in den lateinischen Übersetzungen von Averroes, Ebelsbach, S.112.
Al Gazali, Abu Hamid Muhammad Muhammad (Michael E. Marmura, übersetzt (2000)): The Incoherence of the Philosophers, Provo, UT.
Quran (4:59).
Al Gazali, Abu Hamid, Al-Mustafa, zitiert in Chapra, M. Umer, (2000): The Future of Economics: An Islamic Perspective, Leicester, S. 118.
Hourani, Albert (1962): Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939, London, S. 1-24.
Laoust, Henri (1939): Essai sur les doctrines sociales et politiques de Taki-al-Din Ahmad b. Taimiya. Kairo.
Das Konzept der Hakimiyat Allah wurde von Qutb, Sayyid (1988): ma´alim fi-al-tariq (Wegzeichen), 4. Auflage, Beirut, S. 94 f. niedergeschrieben. Auch Maududi, S. Abuala (N.N): toward understanding Islam, S. 4-113.
Vgl. auch ders.: Nahwa mujtama´ islami, a.a.O., S. 150-152.
Vgl. Qutb, Sayyid (1965): al-mustaqbal li-hadha al-din (Die Zukunft ist für diese Religion), 2. Auflage, Kairo, S. 12-14.
Maududi : A short History of revivalist Movement in Islam, S. 5-22.
Vgl. ebd., S. 27, Banna: Majmu´at rasail al-schahid, a.a.O., S. 269 und S. 309, sowie Khomeini: al-huquma al-islamiya, a.a.O., S. 122f.
Qutb, Sayyid (1952): ma´rakat al-Islam wa-al-ra`smaliya (Der Kampf zwischen Islam und Kapitalismus), Kairo, S. 116.
Tibi stellt fest, dass es im Islam vier unterschiedliche Bezeichnungen für kriegerische Auseinandersetzungen gibt. Der Djihad, der, wie noch gezeigt wird, nicht, wie fälschlich verbreitet „Heiliger Krieg“, sondern Anstrengung als Hingabe zu Gott bedeutet, schließt jedoch auch die kriegerische Aufgabe zur Verbreitung des Islams ein. Vom Begriff „Djihad“, den also nur Muslime führen, wird der Begriff „Harb“/Krieg abgegrenzt. Das arabische Wort wird für die kriegerischen Handlungen, die die Feinde des Islams durchführen, verwendet. Das im Koran aufgeführte Wort „Qital“/Kampf ist die Bezeichnung für den militärischen Teil des „Djihad“. Für den nicht erlaubten innermuslimischen Konflikt, wird dagegen der der Begriff „Fitna“ angewendet. Vgl. Tibi, Bassam (1997): Der wahre Imam. Der Islam von Mohamed bis zur Gegenwart, München, S. 59-99; Vgl auch Sadiq, Hussain (1991): Juzur al-fitna fi’l-firaq al-islamiyya: mundhu ‘ahd al-rusul hatta ightiyyal al-Sadat (Die Wurzeln der Fitna bei islamischen Gruppierungen/Sekten: Von der Zeit des Propheten bis zur Ermordung Sadats) Kairo. 
Zur Aqida gehören die verinnerlichten Inhalte des Glaubens, in diesem Sinne muss ein Muslim überzeugt sein, ohne Zweifel oder Bedenken. Zur Vertiefung vgl. Az-Zuhaili, Wahbat (1992): al-tafsir al-munir fi al-aqida wa al-sharia wa al-manhag“ (Qurankommentar, welcher die Aspekte der Glaubensinhalte, des islamischen Rechtes und der Herangehensweise beleuchtet), 32 Bände, Damaskus/Beirut
Vgl. Juergensmeyer, Mark (1993): The New Cold War? Religious Nationalism Confronts the Secular State, Berkeley, S. 40.
Al-Nadawi, A. Ali (1984): Madha khasira al-´alam bi-inhitat al-Islam (Was verlor die Welt mit dem Untergang des Islam?), Beirut, S. 260f.
Maududi, Abulala (1978): Waqi‘ Al-Muslimin Wa Sabil An-Nuhudi Bihim, 3. Auflage, Beirut, S.. 187f.
Eine weitere Selbstbezeichnung von Islamisten in der arabischen Sprache ist Usuliyun, was eine Ableitung vom arabischen Wort Asl ist und „sich am Fundament orientierende“ bedeutet.
Ibn Taymiya, Taqi al-Din A. (o.D.): al-siyassa al-schar´iya fi-islah al-ra´i wal-ra´iya (Die an der Schari´a orientierte Politik für die Leitung des Hirten und seiner Schafherde) die Bedeutung des Djihad als bewaffneter Kampf für die Ausweitung der göttlichen Lehre. Neudruck Beirut, S. 128-135.
Bereits die islamische Orthodoxie interpretierte den Djihad als eine fard kifaya/kollektive Verpflichtung, die sich von den fard ´ayn/individuellen Verpflichtungen insofern unterscheidet, als dass die fard kifaya vom Kalifen/Herrscher im Namen der ganzen Gemeinschaft auf sich genommen werden muss. Dadurch wurde frühzeitig der Djihad zum Mittel der Politik. Vgl. hierzu: Robinson, Francis (Hrsg.) (1996): Cambridge Illustrated History: Islamic World, Cambridge, S. 173.
Tibi, Bassam: Der wahre Imam, a.a.O., S. 35.
Arjomand, Said Amir (2001): Authority in Shiism, and Constitutional Developments in the Islamic Republic of Iran. in: Brunner, Rainer/Ende Werner (Hrsg.): The Twelver Shia in Modern Times: Religious Culture & Political History, Leiden, S. 301ff.
Die Quelle der Nachahmung bildet, bei den Schiiten die Spitze der theologischen Hierarchie. Es können mehrere Theologen gleichzeitig den Rang der Marja´iya erlangen. Um diesen Rang zu erhalten, muss er eine theologische Abhandlung (Risala ´amaliya) veröffentlichen, die in den theologischen Zentren in Qumm und Nagaf diskutiert wird.
Vgl. Fenske, Hans (1993): Politisches Denken im 20. Jahrhundert, in: Lieber, Hans-Joachim: Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, 2. Auflage, Bonn, S. 836.
Rosiny, Stephan (1996): Islamimus bei den Schiiten, Hamburg, S. 86.
Buchta, Wilfried (2004): Ein Vierteljahrhundert Islamische Republik Iran, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 23. Februar, B9/2004, S. 7.
Tibi, B.: Der wahre Imam, a.a.O., S. 36.
Razi, G. Hossein (1990): Legitimacy, Religion, and Nationalism in the Middle East. American Political Science Review, 84 (March 1990), S. 69-91.
Vgl. Tibi, Bassam (1999): The Failed Export of the Islamic Revolution into the Arab World, in: Grare, F. (Hrsg.): Islamism and Security. International Security Studies, Genf: S.63-102.
Shapira, Shimon (1988): The Origins of Hizballah, The Jerusalem Quarterly, Vol. 46 (Spring 1988): S. 115-30.
Maududi, Abuala (NN): Nazariyat al-Islam wa hadiyat fi-al-siyasa wa-l- qanun wa-l- dastur (Überlegung des Islam und Geschenke für Politik, Gesetz und Verfassung) 5. Auflage, Beirut, S. 33.
Esposito, John L./Voll, John O. (1996): Islam and Democracy. New York, S. 40f.
Vgl. Al-Shawi, Taufiq (1992): fiqh al-shura wal-istishara (Jurisprudenz der Beratung und des Ratschlages, Kairo, S. 459.
Tibi, Bassam (1992): Die islamistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik, München, S. 155.
An-Na´im, Abdullah A. (1992): Toward an islamic Reformation: Civil Liberties, Human Rights, and International Law, Kairo, S. 177f.
Maududi, Abuala (1967): The Islamic Law and Constitution, 3. Aufl., Lahore, S. 147f.
Ibn Taimiyya: al-siyassa al Shar´iya, a.a.O. S. 25.
Maududi, Abul A‘la (1967): The Islamic Law and Constitution, London, S. 147.
Vgl. ebd., S. 178 ff.
Vgl. Ebd. S. 295ff.
Eine rationalistische Schule des Islam, die im 8. und 9. Jahrhundert einflussreich war.
Vgl. Shamsuddin, Salahuddin: Issue of “The Created Quran” between Mu‘tazila and Nasr Abu Said Zayd, in British Journal of Humanities and Social Sciences, June 2012, Vol. 6 (1), S. 21 ff.
Zitiert nach Sabra, Martina (2004): Würdigung dreier Persönlichkeiten der islamischen Welt, im Internet: de.qantara.de/Wuerdigung-dreier-Persoenlichkeiten-der-islamischen-Welt/3123c3217i1p396/(abgerufen am 10.02.2013)
Sadik Jalal al-Azm (2008): Der Kampf um die Bedeutung des Islam Perspektiven auf den radikalen Islamismus, in: NZZ, Ausgabe 15.August 2008.
Ebd.
vgl. al Jabri (2009): kritik der arabischen Vernunft, Kritik der arabischen Vernunft, Berlin, S. 45ff.Bassam Tibi (2000): Transplantat ohne Wurzeln. Die Legitimitätskrise des Nationalstaates in Ländern der islamischen Zivilisation, in: Dieter S. Lutz (Hrsg.), Globalisierung und nationale Souveränität. Festschrift für Wilfried Röhrich, Baden-Baden 2000, S. 319 ff.