Kriminalität

Zum Verhältnis von Islam und politischer Herrschaft

Der Staat im schiitischen Islam


Man kann auf der Ebene des politischen Islam in Sunnitentum feststellen, dass sich bei den Ideologen vornehmlich um Laien handelt, die nicht der religiösen Ulema-Kaste angehören. Dadurch, dass die Legitimität dieser Führer nicht auf der Grundlage ihrer religiösen Autorität fußt, kommt es bei diesen Gruppen oft zu Spaltungen und Neugründungen von Gruppen, die ideologisch gleich sind, aber sich in ihrer Führungsstruktur erheblich unterscheiden und sich gegenseitig bekämpfen. Dies ist im schiitischen politischen Islam anders. Die Führer und Interpretern der fundamentalistischen Ideologien im Schiitentum sind fast ausschließlich religiöse Würdenträger. Damit verfügen sie über eine Autorität, die gemäß schiitischen Traditionen von oben bis in die Basis wirken.
Nach dem Tode des Propheten spaltete sich die junge islamische Gemeinde. Dabei ist die bedeutendste der sektiererisch-religiösen Spaltungen innerhalb der islamischen Umma hinsichtlich Autorität und Legitimität die zwischen der Doktrin des Kalifats im sunnitischen Islam und der des Imamats im schiitischen Islam.35 Für die Schiiten gilt der Schwiegersohn des Propheten als rechtmäßiger Nachfolger und damit erster Imam der islamischen Gemeinde. Die Reihe der schiitischen Imame endete mit dem zwölften Imam, der 874 n. Chr. in die al-ghaiba al-kubra/große Verborgenheit gegangen sein soll. Mit dem zwölften Imam Mohammed al-Mahdi verlor die schiitische Gemeinschaft ihren politischen und religiösen Führer. Damit existiert nach schiitischer Lehre seit dem 9. Jahrhundert keine legitime Herrschaft mehr.36Erst im letzten Jahrhundert entwickelten die Gelehrten in Qumm und Nagaf durch Uminterpretationen eine neue ganzheitliche Lehre von Theologie, Politik und Gesellschaft. Mohammed Bakir As-Sadr wollte durch den Ausbau der Marja´iya37 den bereits vorhandenen Marja´a at-Taqlid/Quelle der Nachahmung mit mehr Befugnissen ausstatten. Dagegen spricht Chomeinis Lehre von der Wilayat al-Faqih/Stellvertreterschaft des obersten Rechtsgelehrten den Theologen eine Führungsrolle zu. Dabei wird dem bestqualifizierten Rechtsgelehrten stellvertretend für den Mahdi die direkte Machtausübung gestattet.38 Den Klerikern werden Kompetenzen im politischen Bereich zugesprochen, die in der bisherigen Lehre als Prärequisiten des Imams galten. Damit schwächt Chomeini die traditionelle Rolle des unfehlbaren Mahdi, der als schiitischer „Messias“ und Endzeitherrscher einst das gerechte Reich Gottes gründen wird. Der oberste Rechtsgelehrte soll nach der neuen Lehre stellvertretend für den Mahdi die Herrschaft ausüben und seine „gerechte Ordnung [...] errichten, welche die Durchführung des göttlichen Rechts ermögliche“.39 Durch die Delegierung von politischen Aufgaben und die Schaffung einer staatstragenden Theorie reformierte Chomeini die schiitische Lehre zugunsten der Theologen, denn wilayat al faqih bildet innerhalb des Doktrinengebäudes der Schia eine Innovation. Damit revolutionierte Chomeini die schiitische Theologie, da er mit der bis dato vom hochrangigen schiitischen Klerus geübten Praxis der Abstinenz in politischen Fragen brach.40 Er ebnete den Weg für eine schiitische Theokratie, die die Schari´a als Grundlage ihrer Herrschaft haben soll. Durch die neue Interpretation der schiitischen Tradition schuf Chomeini eine „politische Brücke zwischen Sunniten und Schiiten“.41 Die Lehre der Wilayat al-Faqih bildet die Grundlage für das iranische System seit der islamischen Revolution,42 die prinzipiell so angelegt ist, dass ihr Export auf dem Wege der Durchsetzung islamistischer Ideologien impliziert ist.43 Damit strahlt die iranische Revolution gewollt vom System in Teheran auf andere Regionen mit schiitischen Bevölkerungsmehrheiten aus.44

Islamischer Staat und Demokratie


In Bezug auf die Demokratie als Ergebnis der Volkssouveränität konstatiert Maududi, dass die Demokratie mit dem Islam nichts zu tun hat. Daher darf die Bezeichnung demokratisch nicht auf ein islamisches System angewendet werden, vielmehr sollte man von der Hakimiyat Allah/Gottesherrschaft sprechen.“45 Im Gedankenkonstrukt von Maududi kann man feststellen, dass die Schari´a die Grundlage der Herrschaft ist, jedoch dort, wo sowohl die Offenbarung als auch die Tradition keine Reglementierung vorweisen, können auf der Grundlage von Igma´/Konsens Gesetze verabschiedet werden. Dieser Sachverhalt wird oft von Beobachtern, als Ansatz von Demokratie bewertet.46 Dies ist allerdings eine falsche Einschätzung, weil es sich hier um einen Konsens unter den Rechtsgelehrten handelt. Auch wenn man das islamische Prinzip der Schura/Rat hinzuzieht, kann man keineswegs von demokratischen Grundstrukturen sprechen. Die Schura ist lediglich eine eher beratende als eine gesetzgebende Institution47Schura bedeutet nicht Parlament im westlichen Sinne. 
In der Schura, als einer traditionellen Herrschaftspraxis, werden islamische Vorläufer der Demokratie gesehen, die Tibi zu Recht als eine „Projektion der Idee einer modernen Demokratie auf den Islam des 7. Jahrhunderts“ bewertet.48 Der sudanesische Rechtswissenschaftler An-Nai´m teilt diese Einschätzung und stellt fest, dass die Schari´a-Bestimmungen nicht nur im Bezug auf den Schutz von Minderheiten unvereinbar mit gültigem Völkerrecht sind und sieht lediglich in der grundlegenden Reformierung des islamischen Rechts eine Möglichkeit zur Demokratisierung islamischer Gesellschaften.49 Maududi, einer der wichtigsten Ideologen des Islamismus, betont nicht nur die Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie, er spricht in seinem Werk polemisierend von einer „Theo-Demokratie“, als Alternative zum westlich-säkularen Modell, in der die Gemeinschaft aller Gläubigen als kollektiver Statthalter Gottes auf Erden wirken soll.50 
Sein Konzept impliziert jedoch den Verzicht des Einzelnen zu Gunsten einer herrschenden Elite, die ihrerseits den Willen Gottes vollstreckt. Hier sieht man einen eindeutigen Bezug zur Orthodoxie, die im Endeffekt eine Entsubjektivierung der Menschen normativ festschreibt, denn „[D]ie Menschen sind die Diener Gottes, die Herrscher vertreten Gott bei seinen Geschöpfen, und sie sind Ermächtigte über diese selbst“.51 Dabei handelt es sich natürlich nicht um eine Theokratie, wie sie das Christentum kennt, sondern:

„...[I]slamic theocracy is something altogether different from the theocracy of which Europe has had bitter experience wherein a priestly class, sharply marked off from the rest of the population, exercises unchecked domination and enforces laws of its own making in the name of God.”52 


Der islamische Staat soll unter der absoluten Souveränität Gottes regiert werden.53 In einem solchen System erhalten Nicht-Muslime nur einen nachgeordneten Status. Das wird damit begründet, dass die staatstragende Ideologie der Islam sei. Dies impliziert, dass nur wer sich zum Islam bekennt, bei der Organisation des Staates involviert werden kann.54 Hier kommt die oben beschriebene Wahrnehmung der Welt in zwei sich entgegengesetzten Polen erneut zum Ausdruck.

Politische Theorien jenseits des islamistischen Projektes


Sadik Jalal al-Azm, Mohammed Arkouns, Mohammed Abed al-Jabri und Nasr Hamid Abu Zaid stehen in einer Reihe von Denkern, die angetreten sind, um islamisches Denken und Moderne zu versöhnen. Dabei unterscheiden sich ihre Ansätze. Während sich al-Azm dezidiert nicht als islamischer Denker versteht und deutlich die Trennung von Religion und Politik fordert, waren Arkoun und Abu Zaid bemüht, die klassischen islamischen Quellen zeitgemäß auszulegung mit dem Ziel, eine Modernisierung innerhalb des Islam herbeizuführen. 
Nasr Hamid Abu Zaid sieht, wie eine Reihe anderer muslimischer Intellektueller, in der Anknüpfung an die Mu‘tazila55 die Möglichkeit, die koranischen Texte „modern“ zu lesen.56 Bei den Mu‘tazila handelt es sich um diejenigen Muslime, die Verstand und Vernunft als Grundlage für den Umgang mit der göttlichen Offenbarung nutzten und den Islam lange Zeit prägten. Sie lasen die religiösen Texte mit der Brille der griechischen Philosophie unter Anwendung der Scholastik als wissenschaftliche Denkweise und Methode der Beweisführung. Ihre vernunftgebundene Interpretation des Korans in seinem historischen, kulturellen und sprachlichen Kontext bietet heutigen Reformern die Möglichkeit den Koran in seinem zeitgeschichtlichen Kontext zu interpretieren und damit von den Zwängen vergangener Auslegungen zu lösen. Diese Versuche islamischer Reformer erschöpfen sich allerdings darin, ehemalige islamischer Debatten wiederzubeleben. Diese Debatten wurden jedoch bereits vor Jahrhunderten zur Gunsten einer traditionelle, textorientierter Leseart des Korans entschieden. Trotz der wertvollen Vorlagen der islamischen Philosophen sind in den vergangenen Jahrhunderten kaum tiefgehende Werke entstanden, die eine umfassende islamische Gesellschaftslehre beschreiben und sich gegen die orthodoxie oder gar den Diskurs des politischen Islam durchsetzen konnten. Das findet bei al-Azm Bestätigung. Al-Azm geht zwar davon aus, dass die Aufklärung auch im islamisch geprägten Raum ihren Lauf finden wird. Er schöpft daraus Hoffnung, dass „[I]n der muslimischen Welt […] der de-facto-Säkularismus sehr verbreitet (ist); vor allem in der arabischen Welt. Aber man hat nie eine säkulare Ideologie entwickelt, oder säkulare Parteien, mit eindeutig weltlichen Programmen, basierend auf einer Trennung von Staat und Religion.“57 Ausschlaggebend für die Modernisierung ist jedoch die Definition und Deutungsmacht über Quellen, „weil die Religion auch heute noch die doktrinäre Basis muslimischer Gesellschaften ist […]“.58 Allerdings konnten sich, so al-Azm, „die modernen Lesarten des Korans und der islamischen Basistexte, die deren Aussagen durch eine symbolische, metaphorische oder historische Interpretation auflösen wollten, bisher nicht durchsetzen“.59 
Al-Jabri fordert in seinem Werk „Kritik der arabischen Vernunft“ ein unabhängiges politisches Feld. Seine Forderung nach der „Säkularisierung des Denkens“ impliziert somit die Trennung der Politik von den Bereichen Theologie, Philosophie, Recht und Geschichte. Dabei kritisiert er heftig, dass innerhalb der islamischen Zivilisation durch die dominante Rolle der religiösen Gelehrten und ihrer traditionell engen Verzahnung mit der politischen Macht die Grundlage für eine von der Religion unabhängigen Vernunft zerstört wurde. Das islamische Denken bezieht damit alle Bereiche, auch die politischen, auf die Offenbarung und sucht in der Methode des Analogieschlusses einen Ausweg zu finden, wenn die Offenbarung sich nicht konkret zu einem Sachverhalt äußert. Die Tatsache, dass die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Theologie spätestens im 13. Jahrhundert zugunsten letzterer entschieden wurde, führte schließlich dazu, dass seither nicht die Produktion neuer Diskurse die islamische Kultur bestimmt, sondern die Reproduktion alter Gedanken.60 Diese radikale Kritik al-Jabris mündet in seiner klaren Forderung, wonach nur durch die Trennung von Religion und Politik die Manifestation einer lebensfähigen Diskurskultur erfolgt, die die Muslime in die Moderne führen könnte. Al-Jabri betont die Heterogenität der arabischen Geschichte als Referenzpunkt, um seine Forderung nach Pluralisierung und Demokratisierung zu untermauern.