Was eigentlich ist die Scharia?

– Grundzüge des Rechts und der Kultur des Islam

Von Dr. Marwan Abou-Taam, LKA Rheinland-Pfalz und Dr. Parinas Parhisi (HMdJIE)

Grundzüge des islamischen Rechts


Die islamische Rechtswissenschaft wird häufig als arab. fiqh bezeichnet. Als islamisches Lebens- bzw. Weltkonzept ist fiqh jedoch eine umfassende Wissenschaft, die sich u.?a. rechtlicher Fragestellungen annimmt, im Übrigen aber die Gesamtheit religiöser und rechtlicher Handlungen bestimmt. Wenn in diesem Seminar fiqh zur sprachlichen Vereinfachung als islamische Rechtswissenschaft bezeichnet wird, so geschieht dies in dem Bewusstsein, dass damit nur ein Ausschnitt des islamischen Rechtssystems gemeint ist. Das islamische Recht stellt im Übrigen kein einheitlich kodifiziertes Rechtssystem dar.

Im Rahmen dieser Abhandlung wird zunächst kurz auf rechtsgeschichtliche Aspekte eingegangen, indem die Entstehung der Rechtsschulen dargestellt wird. Der primäre Fokus der folgenden Erörterungen liegt sodann auf Rechtsquellen und Auslegungsmethoden.

1. Die Spaltung der Muslime und die Entstehung der Rechtsschulen


Der Ausgangspunkt für die konfessionelle Spaltung, die zur Entstehung schiitischer Rechtsschulen führte, war der von blutigen Bürgerkriegen begleitete Streit der frühislamischen Gemeinde über die Frage des rechtmäßigen Nachfolgers des Propheten als Führer des islamischen Gemeinwesens. Die Spaltung war somit zunächst (staats-)politischer Natur und nicht rechtsdogmatisch bedingt. Während der Prophet Muhammad nach sunnitischer Auffassung zu Lebzeiten keine eindeutige Aussage über seine Nachfolgeschaft getätigt haben soll, behaupteten Anhänger der Partei 'Alis (shi'at 'Ali, eingedeutscht als „Schia“), ohne es allerdings beweisen zu können, dass 'Ali ibn Abi Talib (Vetter und Schwiegersohn des Propheten) von diesem selbst als dessen einzig legitimer Nachfolger bestimmt worden sei. Durch diesen Streit ist eine neue Ausrichtung des Islams entstanden.
Die Ausbreitung der Glaubenslehre und des Gesetzes im gesamten Vorderen Orient und im Mittelmeerraum führte indes zu neuen Rechtsfragen, in welchen sich die Unterschiede und die Spaltung zwischen Sunna und Schia festigten. Dies führte zur Entstehung neuer Rechtsschulen. In der ersten Hälfte des 8.?Jahrhunderts knüpften im sunnitischen Islam die Schulgründungen an Diskussionszirkel in religiösen Zentren wie Medina, Kufa und Basra an, welche die Doktrin herausragender Lehrer und ihrer Schüler zur Grundlage hatte. Diese haben schließlich vier sunnitische Rechtsschulen, nämlich die hanafitischemalikitischeschafi'itische sowie hanbalitische hervorgebracht. Sie hatten seit jeher keinen Anspruch auf Exklusivität, sondern auf Koexistenz und Diskurs und akzeptieren die primären Rechtsquellen Koran und Sunna. Uneinigkeit besteht teilweise in der Anerkennung der beiden anderen sekundären Quellen, dem Analogieschluss und dem Gelehrtenkonsens, was im Folgenden näher zu erläutern sein wird.
Durch die konfessionelle Spaltung ist auf der anderen Seite die schiitische Rechtsschule entstanden, die sich in weitere Untergruppen unterteilte. Die Weiterentwicklung dieser Schule hing mit der Frage zusammen, dass nach 'Alis Tod die Meinungen der verschiedenen schiitischen Gruppierungen auseinandergingen, wer nun als Nachfolge zur Führung der Gemeinde berechtigt sei. Für die Zwölferschiiten gelten ausschließlich die Nachfolger 'Alis als legitime Nachfolger, wobei seine Familie auf die männlichen Nachkommen der Prophetentochter Fatima aus der Ehe mit 'Ali eingeengt wird. Genauso wie das Erbcharisma als konstitutiv gilt, gilt auch die Unfehlbarkeit der Imame als konstitutiv. Schiiten betrachten die Führer der muslimischen Gemeinde (von ihnen emam genannt), deren Reihe mit 'Ali beginnt und sich bei seinen beiden Söhnen und deren Nachkommen fortsetzt, als unfehlbare Nachfolger des Propheten Muhammad, da sie als von Gott bestimmte religiöse Führer der islamischen Gemeinde gelten. Der Name „Zwölferschiiten“ bezieht sich auf die Zahl dieser Führer der muslimischen Gemeinde, die als legitim anerkannt werden. Je nach dem, welcher Imam von einer Gruppe (im Gegensatz zu seinen Nachfolgern) noch als legitim anerkannt wird, wird von Fünfer-, Siebener- und Zwölferschiiten gesprochen. Indessen vereinigen die Zwölferschiiten in der Moderne die Majorität der Schiiten auf sich.

2. Das Wesen des Gesetzes


Wörtlich übersetzt bedeutet das arabische Wort Scharia „der Weg zur Tränke“ oder „der klare Weg“. Sure 5, Vers 48 des Qurans spricht von der Scharia als dem Weg, der für jeden Muslim bestimmt ist.
Islamisches Recht ist somit als religiöses Recht durch Normen göttlichen Ursprungs gekennzeichnet (ius divinum). Der Islam ist seinem Selbstverständnis nach die vollkommene Religion, welche ein umfassendes „Lebensmodell“ für alle Lebensbereiche darstellt und vorbehaltlosen Gehorsam der Gläubigen für den Kanon ethischer Maximen und rechtlicher Bestimmungen als Grundpfeiler des religiös bestimmten Lebens verlangt. Die Scharia (arab. shari'a) ist die Summe dieser Richtlinien, die für alle und in allen Zeiten Verbindlichkeit beanspruchen, so die traditionelle Auslegung. Zu beachten ist: Scharia ist ein Synonym für die Gesamtheit der islamischen Gesetze und nicht allein mit dem Strafrecht gleichzusetzen.
Das göttliche „Gesetzeswerk“ wird in zwei, jedoch eng miteinander verbundene Bereiche aufgeteilt: Glaubensordnung (elahiyat) und Rechtsordnung (shari'a), die uno actu verstanden werden. Der Begriff des Rechts muss unter der Bedingung verwendet werden, dass das islamische Recht Teil eines Systems religiöser Pflichten ist, das sich mit nichtreligiösen Elementen vermischt hat. Doch ist die in religiöse Pflichten inkorporierte Rechtsmaterie darin nicht vollständig aufgegangen. Der technische Charakter, das juristische Schlussfolgern und Argumentieren wurde weiterentwickelt. Bei einer wie auch immer gearteten Analyse des Rechtsbegriffs im islamischen Recht darf nicht aus den Augen gelassen werden, dass die islamische Rechtswissenschaft von Anfang an religiöse Dimensionen besaß. Ließe man beispielsweise Glaubensregeln ('ebadat) völlig außen vor, so würde das Wesen des islamischen Rechts auf das säkular-westliche Vorbild reduziert, was dem Charakter und Anspruch des islamischen Rechts zuwiderliefe. Als Alternativkonzept kann dasjenige bezeichnet werden, dass zwischen forum internum (Handlung ohne äußere feststellbare Wirkung = Beziehung Mensch – Gott) und forum externum (Handlungen mit äußerer feststellbarer Wirkung = Beziehung Mensch – Gemeinschaft) differenziert. Nur für das forum internum lässt das islamische Recht eine positivrechtliche Regulierung zu, nicht zuletzt auch des Erfordernisses der Justiziabilität wegen. Somit ist die Anwendung und Befolgung des islamischen Rechts – ungeachtet der Tatsache, dass die Befolgung der Rechtsnormen für Gläubige zugleich Religion ist – als Recht anzusehen.
Charakteristisch für die Scharia ist weiterhin die primäre Geltung von Pflichten, welche gegenüber den Rechten im Vordergrund stehen. Dieses Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein, das zunächst Gott gegenüber gilt, prägt unter der Prämisse des gegenseitigen Respekts auch das Handeln der Menschen untereinander, haben doch soziale Normen eine hervorgehobene Stellung im islamisch geprägten Kulturraum. Darin manifestiert sich auch, dass der Islam eine Religion der Öffentlichkeit ist. Der Glaube wird erst im gemeinsamen Praktizieren göttlicher Vorschriften bzw. im äußeren Zeugnis und Bekenntnis in der Gesellschaft verwirklicht. Diese Komponente des Gesetzes stellt gleichsam das Fundament der islamischen Gesellschaftsordnung dar.
Die Regelungsbereiche des klassischen islamischen Rechts lassen sich in Ritualvorschriften ('ebadat) und Fragen des Privatrechts (mu'amelat) unterscheiden. Aus schiitischer Perspektive werden zudem Fragen des öffentlichen Rechts (siyasat) erörtert.


a) Die Glaubensordnung

Die Glaubensordnung ('ebadat) ist die Summe zeitlos wie ewig geltender religiöser Verpflichtungen (in Form von kultischen Handlungen) vor Gott, die unter keinen Umständen den vergänglichen gesellschaftlichen Anforderungen durch weltliche Gesetzgebung unterliegen. Obschon die Glaubensordnung nicht unmittelbar Gegenstand unseres Seminares ist, werden deren wichtigste Grundsätze, „Säulen des Islams“ genannt, die immer dann relevant sind, wenn frauenbezogene Regelungen, wie etwa die Kopftuchpflicht für Frauen, mit Verweis darauf begründet und folglich als vermeintlich zwingend mit rechtlicher Verpflichtungskraft versehen werden.
Die religiösen Glaubensprinzipien und Pflichten werden durch jene fünf Säulen des Islams festgelegt, welche von jedem Muslim – unabhängig von der jeweiligen Rechtsschule – zu erfüllen sind:
Die erste Säule ist das Glaubensbekenntnis (arabisch: Schahada), wonach es keinen Gott außer Gott gibt und Muhammad sein Prophet ist.
Das tägliche Gebet wird als zweite Säule fünfmal am Tag unter Beachtung vorgeschriebener Waschrituale verrichtet.
Die Pflichtalmosen sind gemäß der dritten Säule eine Vermögenssteuer zugunsten von Armen, die einkommensabhängig freiwillig an den Staat abgeführt werden; das Fünftel ist die islamische Einkommensteuer.
Die vierte Säule ist die Pflicht zum Fasten im Monat Ramadan.
Schließlich wird die fünfte Säule durch die Wallfahrt bestimmt, wonach ein Muslim verpflichtet ist, mindestens einmal im Leben zur Kaaba („Gotteshaus“) in Mekka zu pilgern – sofern die finanziellen sowie gesundheitlichen Verhältnisse dies zulassen.

Die Bedeutung der Pflichten wird insbesondere im Hinblick auf die Gewährleistung von Frauenrechten besonders deutlich, was an folgenden Beispielen demonstriert werden soll. Obwohl im Iran die Erlaubnis des Ehemannes für die Ausreise der Ehefrau gesetzlich vorgeschrieben ist, verzichtet der Staat für die Erteilung der Ausreisegenehmigung für die pilgerwillige Frau ausnahmsweise darauf, sollte sich der Ehemann weigeren. Weiterhin gehören Bekleidungsvorschriften, wie etwa eine Kopftuchpflicht, nicht zu den Grundsäulen des Islams, obwohl eine entsprechende Pflicht in manchen islamischen Ländern kodifiziert ist.



b) Handlungskategorien

Das islamische Recht unterteilt die menschlichen Handlungen in fünf solche Kategorien:
Fard/wagib (Obligatorisch) bezeichnet eine Pflicht. Sie zu erfüllen, wird belohnt und ihre Unterlassung zieht Strafe nach sich.Mandub bezeichnet eine Empfehlung. Während die Tat belohnt wird, bedeutet ihre Unterlassung jedoch keine Strafe.
Mubah charakterisiert eine sittlich neutrale Handlung. Weder wird ihr Vollbringen belohnt, noch ihre Unterlassung bestraft.
Makruh ist eine Tat dann, wenn ihre Unterlassung belohnt, ihr Vollzug aber nicht bestraft wird.
Haram bezeichnet ein klares Verbot. Die Unterlassung wird belohnt, während der Vollzug bestraft wird.

Lohn und Strafe beziehen sich dabei auch auf außerweltliche Kategorien, denn nicht alles, was haram ist, wird vom Richter mit Strafe belegt, insbesondere dann nicht, wenn ein Verstoß die Rechte Gottes und nicht diejenigen eines anderen Menschen verletzt. Da nach islamischer Überzeugung nur Gott das souveräne Urteil über alles menschliche Handeln besitzt, streben die Gelehrten die Annäherung an den offenbarten göttlichen Willen an.
Die islamische Orthodoxie kennt große und kleine Sünden. Aus dem Quran wird jedoch nicht deutlich, was man als große und was man als kleine Sünden betrachten kann. Allerdings gilt seit Ghazzali (1059 – 1111 n.Chr.), dass am schwersten die Sünden gegen Gott und gegen den Glauben sind, dann folgen die Sünden, die sich gegen das Leben des Menschen und schließlich diejenigen, die sich gegen die Mittel, die das Leben ermöglichen, richten. Der Quran berichtet davon, dass die Taten der Menschen auf eine Waage gelegt werden. Dabei wird stets von der Barmherzigkeit Gottes und von seiner Bereitschaft, alle Sünden der Menschen zu vergeben, berichtet. Bedingung für die Erlangung der göttlichen Vergebung ist in erster Linie der Glaube. Beim Gericht werden jedoch Unterschiede gemacht, sodass mit einigen scharf abgerechnet wird, anderen wird Mitleid gezeigt, einige treten ohne Abrechnung ins Paradies. Alle Bekenner von Gottes Einheit kommen, nachdem sie für ihre Taten gebüßt haben, schließlich ins Paradies. Muslime glauben, dass Propheten und andere gute Menschen für sie Fürsprache bei Gott einlegen können.

c) Privatrechtliche Handlungen

Unter mu'amelat werden privatrechtlich geregelte Handlungen verstanden, welche grundsätzlich der staatlichen Autorität und ihrer Intervention unterworfen sind. Denn das islamische Recht bleibt trotz seiner starken Bindung an religiöse Wurzeln nicht in den ethisch-moralischen Dimensionen der Pflichtbefolgung verhaftet und sieht die Falllösung als soziales und historisches Faktum an. Moral und Recht berühren sich zwar, vermengen sich aber nicht. Im Unterschied zur 'ebadat-Regeln ist den mu'amelat-Regeln in erster Linie eine diesseitige Rechtsverbindlichkeit bzw. Rechtsverantwortung eigen, wonach die Zwecksetzung der Normen maßgeblich ist. Das islamische Recht ist daher insbesondere im Bereich des Zivilrechts auch weltliches Recht, da die Fallentscheidungen nach allgemeingültigen objektiven Regeln durchgeführt werden. Die Kernvorschriften von 'ebadat und mu'amelat verletzen nach der hermeneutischen Auffassung weder die Interessen heutiger Muslime noch stehen sie mit Prinzipien der Vernunft im Widerspruch. Die Normen und die danach ergangenen Urteile in diesen beiden Gebieten stünden demnach mit den in der Rechtswissenschaft anerkannten fünf Grundzielen religiösen Handels, namentlich Schutz der Religion, der Vernunft, der Familie, des Eigentums und des Lebens, im Einklang.

d) Öffentliches Recht

Siyasat (wrtl. »Politik«) betrifft das Verhältnis zwischen Staat und Individuum, worin staatsbezogene Handlungen und Sanktionen geregelt sind. Damit entspricht es in etwa dem öffentlichen Recht. Siyasat ist als eine dem Herrscher überlassene Regelungsbefugnis zu verstehen, die sich auf die Materien bezieht, die in der Scharia nicht ausdrücklich geregelt sind. Sie umfasst Gesetze und Verordnungen, ohne dabei unmittelbar den Anforderungen der Scharia zu unterliegen. Zu konstatieren ist, dass das göttliche Recht zwar verbindliche Maßstäbe für das Verhalten der Muslime setzt, die jedoch abgesehen von den Regeln der 'ebadat zur Disposition des weltlichen Gesetzgebers stehen und im Sinne der Vernunft veränderbar sind. Regeln des öffentlichen Rechts könnten im Wege des Vorrangs der Gerechtigkeit und Vernunft veränderten Lebensbedingungen Rechnung tragend neu definiert werden. Festzuhalten bleibt, dass siyasat-Normen in den iranischen Debatten viel Kritik erfahren, die unter anderem auch einfachgesetzliche Normen in Bezug auf Frauen betreffen.

3. Quellen des islamischen Rechts


In der islamischen Rechtswissenschaft werden formelle Grundlagen (usul al-din) und materielle Bestimmungen (furu' al-din) unterschieden. Im Folgenden werden die formellen Grundlagen erörtert, welche die islamischen Rechtsgelehrten (arab. faqih, pl. fuqaha') für die Würdigung juristischer Sachverhalte heranziehen.
Das islamische Recht basiert nach der klassischen Theorie von den usul al-fiqh auf vier HauptrechtsquellenKoranSunna (Tradition des Propheten), Konsens und Analogieschluss. Die Rechtssatzbildung gilt sowohl beim Koran als auch bei der Sunna als abgeschlossen. Innerhalb der islamischen Normenhierarchie beanspruchen die überlieferten Rechtsquellen (Entscheidungs- und Erkenntnisquelle) Koran und Sunna unmittelbare Geltung und gehen den auf intellektuellen Operationen basieren Sekundärquellen Gelehrtenkonsens und Analogieschluss vor. Denn als unmittelbares Wort Gottes sind Koran und auch die Sunna der Interpretation nicht zugänglich, so das traditionelle Verständnis. Schöpferische Interpretation als intellektuelle menschliche Leistung wird nach diesem Verständnis bei den nachgeordneten Rechtsquellen, die als menschliche „Produkte“ gelten, gestattet.
Die islamische Rechtswissenschaft weist mit anderen Worten eine strukturelle Einteilung auf, die im Kern auf Prinzipien des Korans und der Sunna zurückgeht, diese jedoch ausweitet bzw. konkretisiert. Im Folgenden werden die einzelnen Quellen in der gebotenen Intensität betrachtet, wobei der primäre Schwerpunkt auf die Darstellung der traditionellen Sicht liegen soll.

a) Koran: Stellenwert und Inhalte

Der Koran gilt nach herrschender sunnitischer und schiitischer Meinung als die ranghöchste Quelle des islamischen Rechts, worin alle wesentlichen Fragen des menschlichen Lebens einer religiös-rechtlichen Wertung unterzogen werden. Er wird in erster Linie als eine göttliche Offenbarung verstanden, welche theologische Fragen neben kultischen und rechtlichen Anweisungen beinhaltet. Der Koran gilt hinsichtlich des menschlichen Handelns zugleich als rechtliche Wegweisung bzw. Kanon von gesetzlichen Bestimmungen mit absoluter und zeitloser Verbindlichkeit aus sich heraus; das Buch bedarf keines Transformationsprozesses in das säkulare Recht oder auch in das religiöse Recht. Es ist kein corpus iuris oder gar ein universelles Gesetzbuch der Muslime. Denn nur eine Minderzahl der Normen des islamischen Rechts lässt sich unmittelbar auf den Koran zurückführen.
Nach dem muslimischen Glauben beinhaltet der Koran das an Muhammad gesandte Wort Gottes, das durch den Erzengel Gabriel in einem Zeitraum von zwanzig Jahren dem Propheten zuteil wurde. Der Koran besteht demnach vollständig aus geoffenbartem göttlichem Recht und weist keine Bestandteile ius humanum auf.
Der Koran ist ein religiöses Buch, indem eine Doktrin von Geboten zwischen Gott und Menschen in 114 Kapiteln, genannt Suren, ausgeführt ist. Die Suren sind wiederum in etwa 6000 Verse (Ayat: arab. Zeichen Gottes) untergegliedert. Die Suren sind nicht thematisch, sondern nach ihrer Länge hintereinander angeordnet. Einzige Ausnahme von diesem Prinzip bildet die Eröffnungssure (al-Fatiha), die aufgrund ihres zentralen theologischen Gehalts am Anfang steht. Unterschieden werden theologische Aussagen (etwa die Josefsgeschichte oder ethische Regelungen) und gesetzliche Regelungen. Die überwiegende Zahl der Verse betrifft jedoch Vorgaben des rituellen Rechts ('ebadat).
Mit anderen Worten: Von den 6200 Versen des Qurans haben etwa 550 einen normativen Charakter, die größtenteils kultische Vorschriften für das Gebet, das Fasten und die Pilgerfahrt enthalten.
Die Regelungen des weltlichen Rechts, insbesondere Normen für die Regulation sozialer Beziehungen (mu'amelat) fallen indes zahlenmäßig deutlich geringer aus, insgesamt ca. 80:
Zehn Verse regeln das Erbrecht, rund dreißig befassen sich mit Strafrecht und fünfzehn mit dem Prozessrecht.
Für das Eherecht werden siebenunddreißig, für das Kauf-, Handels- und Wirtschaftsrecht insgesamt elf Verse gezählt.
Zehn Verse sind mit Fragen der staatlichen Ordnung (gleichsam Verfassungsrecht) befasst und fünfundzwanzig können als „internationales Recht im weiteren Sinne“ bezeichnet werden, da sie die (Rechts-)Beziehungen zu ausländischen Staaten betreffen.

Dennoch wird der Koran heute gelegentlich als Grundgesetz des islamischen Rechts bezeichnet. Dies ist insofern nachvollziehbar, da rechtliche Regelungen im Koran naturgemäß nur als grundlegende Basisnormen festgelegt sein können. Der Koran wird zum Teil als eine lebendige Schrift bezeichnet, die im Rahmen der sozialen Lebenswirklichkeit der Gemeinschaft der Gläubigen (umma) stetig weiterentwickelt und ihren Anforderungen angepasst wurde: Selbst ein flüchtiger Blick auf die Entstehung der Scharia zeuge davon, dass sich das Gesetz und die Offenbarung stets in Harmonie mit der islamischen Gemeinschaft entwickelt hätten. Der Koran verkünde zwar eindeutig ewige Botschaften, diese seien jedoch als Antworten auf ganz bestimmte historische Umstände zu begreifen, da sich die Offenbarung mit der Ausbreitung der Gemeinde gewandelt habe, um neuen Gegebenheiten gerecht zu werden.
Diese vermeintlich vorhandene Klarheit koranischer Texte steht jedoch konträr zu Debatten und auch Realität in islamischen Ländern. Angesichts der intensiven Diskussionen über die Vereinbarkeit der Aussagen des Korans mit den Errungenschaften der Moderne wie Demokratie und Menschenrechte sind daran große Zweifel angebracht. An dieser Stelle soll nur festgehalten werden, dass die hermeneutische Betrachtungsweise des religiösen Rechts sogar im Hinblick auf den Koran eine theoretische Basis für die Entwicklung des Rechts zur Verfügung stellt, wenn auch die tatsächliche Durchsetzung dieser Denkschulen nach wie vor in der gesamten islamischen Welt Hemmnissen ausgesetzt ist.



b) Sunna: Stellenwert und Bindungskraft


Der arabische Begriff sunna (wrtl. „beschreitbarer Weg“) erklärt im Allgemeinen eine vorbildliche Lebensweise, der andere folgen sollen. Die Sunna wurde vom Koran als ergänzende bzw. erläuternde Rechtsquelle anerkannt. Schon zu Lebzeiten des Propheten richteten die Gläubigen ihr Handeln nach seinem Vorbild aus, wobei das Konzept der Sunna auf vorislamische Zeit zurückgeht.
Die Autorität der Sunna beruht darauf, dass göttliche Ge- und Verbote exemplarisch im Handeln, Reden oder konkludenten Einverständnis des Propheten („heilige Gewohnheit“) ihren Niederschlag gefunden haben. Muhammad gilt im Hinblick auf die genannten Verhaltensmodalitäten als unfehlbar. Daher haben die Gläubigen in den Fällen, die Muhammad in der einen oder anderen Weise entschieden hat, keine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit mehr. Die Handlungsweisen des Propheten sollten auch nach seinem Tod durch eine Sammlung für kommende Generationen sicher gestellt werden. Für Schiiten gelten neben der Tradition des Propheten auch die der zwölf Imame als verbindlich. Denn die Imame zeichnen sich über die sittlich-moralische Unfehlbarkeit durch eine umfassende Kenntnis der Scharia aus.
Nachfolgend seien einige Begriffserklärungen angebracht, um das Konzept der Sunna besser einordnen zu können. Ein Bericht über die prophetische bzw. heilige Handlungsweise wird im Arabischen mit hadith (wrtl. „Gesagtes“) bezeichnet. Es handelt sich um eine Erzählung, welche die Modalitäten des prophetischen Handelns im Bezug auf den Koran, also dessen Anweisungen, Verordnungen, Wertungen und Stellungnahmen zu Lebens- und Rechtsfragen wiedergibt. Mit anderen Worten ist eine Sunna ein Usus, welcher den Korantext gleichsam erklärt. Ein Hadith ist hingegen die Überlieferung eines solchen Usus. Er unterliegt bestimmten Tradierungsanforderungen, um als echt betrachtet werden zu können. Für Schiiten besteht das Authentizitätskriterium eines gültigen Hadiths aus zwei Aspekten: tradierter Text (matn) und Tradentenkette (isnad). Unter dem Text ist die jeweilige überlieferte Aussage des Propheten zu verstehen. Die Tradentenkette ist eine lückenlose Kette von Gewährsmännern, durch welche der Text bis zum Propheten und für Schiiten zusätzlich bis zu den Imamen zurückreichend tradiert wurde. Dabei ist nicht der Text das Echtheitskriterium, sondern das frei von chronologischen Widersprüchen übermittelte Wissen unbescholtener Gewährsmänner. Somit ist die Tradentenkette das Echtheitskriterium einer Sunna. Mit anderen Worten bedeutet es, dass in einer lückenlosen Kette von Gewährsmännern bis zum Propheten Muhammad bzw. zu einem Imam tradiert wird, sodass das übermittelte Wissen zweifelsfrei auf diese Personen zurückführbar ist. Liegen die genannten Anforderungen vor, so gilt eine Sunna als erhärtet und somit normativ bindend.
Insgesamt ist festzuhalten, dass es sich um einen Konkretisierungsprozess der göttlichen Offenbarung handelt, welcher im Korantext festgeschrieben und im Usus des Propheten leibhaftig wird sowie schließlich durch Erzählungen an spätere Generationen weitergegeben wird. An die überlieferte Erzählung werden strenge Maßstäbe angelegt, will sie Geltung beanspruchen.
Die Frage des Rangverhältnisses der Sunna zum Koran ist indes klar geregelt. Der Sunna wird anders als dem Koran teilweise keine oder jedenfalls nur eine begrenzte normative Kraft als akzessorische Rechtsquelle zuerkannt. Die herrschende Meinung lässt jedoch der Sunna eine starke Rolle als Rechtsquelle zukommen, wenn erstens die einschlägige Überlieferung als authentisch erwiesen ist, zweitens die Materie nicht im Koran geregelt ist und auch nicht gegen dessen zwingende Normen verstößt sowie schließlich drittens keine banale, sondern eine religiöse Materie betrifft.

c) Konsens

Aus der Notwendigkeit zur Rechtsfindung durch die Rechtsprechung der Rechtsgelehrten einer Generation ist gemäß der usul al-fiqh-Lehre die den Primärquellen nachgeordnete Rechtsquelle des Konsens der Gemeinschaft (ijma' = consensus doctorum) entstanden. Die Rechtsgültigkeit dieser Rechtsquelle wird aus dem einem Hadith des Propheten abgeleitet: „Meine Gemeinde wird nie in einem Irrtum übereinstimmen.“ Dennoch herrscht in den islamischen Rechtsschulen keine Einigkeit über die Bedeutung bzw. normative Wirkungskraft dieser Rechtsquelle. Während sunnitische Rechtsschulen seit jeher über die begriffliche Bedeutung, wird der Konsens in der Gestalt des sunnitischen Lehrverständnisses von schiitischen Rechtsschulen abgelehnt. Darin besteht im Übrigen der juristische Hauptunterschied der beiden Richtungen. Lassen nämlich die Sunniten mit dem Konsens eine Übereinkunft der Menschen als Rechtsquelle gelten, so fordern Schiiten darüber hinaus, dass der Einfluss des „Unfehlbaren“ auf die Entscheidung ersichtlich ist, um ihr normative Kraft zuzusprechen. Es wird gefordert, dass der schiitische Konsens, in zahllosen Einzelüberlieferungen, die ihn bekräftigen, in irgendeiner Form die Meinung eines unfehlbaren Imams zutage treten muss.
Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass dem Prinzip der persönlichen Bemühung des Gelehrten im Sinne der selbstständigen Urteilsfindung durch einen kompetenten religiösen Rechtsgelehrten in der schiitischen Rechts- und Urteilsfindung hohe Bedeutung beigemessen wird. Der folgende Exkurs soll diese wichtige Doktrin in Grundzügen wiedergeben, da ihr als Kernstück für hermeneutische Betrachtungen islamischer Normen eine immense Bedeutung zukommt.

d) Exkurs: Die Doktrin des 'ejtehad als Prinzip der Rechtsfindung

'Ejtehad, das Prinzip der „Bemühung“ (arab. ijtihad) hat insbesondere in der schiitischen Doktrin der usuli-Schule seit dem 18. Jahrhundert zu einer Dynamisierung der schiitischen Lehre geführt. Das Prinzip des 'ejtehad wurde bei den Schiiten notwendig, als der zwölfte Imam im Jahre?874 in die Verborgenheit entrückte und damit ein Vakuum in der legislativen, exekutiven und religionsrechtlichen schiitischen Führung entstand.
Die mit dem Titel 'mojtahed versehenen Rechtsgelehrten bestimmten unter Zuhilfenahme des 'ejtehad die Aspekte der privaten und sozialen Lebensführung der „einfachen“ Gläubigen. Denn die theologisch nicht qualifizierten Gläubigen sind ihrerseits zur Befolgung bzw. Nachahmung (taqlid) des von ihnen gewählten 'mojtahed (auch marja'-e taqlid „Quelle der Nachahmung“ genannt) verpflichtet.
In diesem Sinne wird der 'ejtehad in der Islamwissenschaft unzweifelhaft als Inbegriff des schiitischen Rechtsetzungsverfahrens bezeichnet. Doch sollte das schiitische Dogma nicht wegen seiner im Vergleich mit dem sunnitischen Dogma interpretativen Offenheit bezüglich der heiligen Texte idealisiert werden. Auch in der Schia sind Ansichten vorzufinden, wonach die Möglichkeit des 'ejtehad nicht mehr vorhanden sei – man spricht gar vom „verschlossenen Tor“ zum 'ejtehad.
Die Autorität des 'mojtahed kommt darin zum Ausdruck, dass ihm eine individuelle Interpretationsbemühung des islamischen Rechts immer dann obliegt, wenn als authentisch anerkannte 'hadithe einander widersprechen bzw. mit Aussagen des Korans im Widerspruch scheinen. Wird der Mojtahed bei seiner Suche nach Lösungen anhand der Primärquellen nicht fündig, so kann er kraft seiner Autorität als marja'-e taqlid (wrtl. „Quelle der Nachahmung“) den Sachverhalt nach eigenem Urteil bzw. eigener Meinung (ra'y) entscheiden.
Die Untersuchung der Usul-Werke – sowohl schiitischer als auch sunnitischer – ergibt, dass der Begriff 'ejtehad explizit auf zwei, ineinander fließenden Bedeutungsebenen verwendet wird. Auf einer allgemeinen Ebene bedeutet 'ejtehad für Schiiten wie Sunniten „das größtmögliche Bemühen um die Ermittlung der Schariaregeln“ gleichsam als der Prozess der Rechtsfindung (Rechtsquelle) schlechthin, wobei bereits hier darüber gestritten wird, welche Methoden unter 'ejtehad subsumierbar sind. Die zweite Bedeutungsebene betrifft den 'ejtehad als eine Rechtsfindungsmethode neben den Primärquellen und dem Konsens, wenn die konkret zu beantwortende Frage weder im Text (nass) behandelt wurde noch Gegenstand eines Konsenses darstellt.
Insgesamt kann konstatiert werden, dass das Wesen des islamischen Rechts durch das dynamische Zusammenspiel der Einbeziehung des menschlichen Denkens und des Hervorhebens der Vernunft ('aql) gekennzeichnet ist. Dies schafft die Möglichkeit, den sich ständig verändernden Bedingungen der Gesellschaft flexibel anzunehmen und sie islamgerecht zu harmonisieren.



e) Analogieschluss

Die vierte Quelle des islamischen Rechts, der Analogieschluss (qiyas, wrtl. „Vergleich“), ist sehr umstritten. Mit qiyas ist die selbstständige Rechtsfindung der Gelehrten gemeint, die aus Bestimmungen des Korans, aus der Sunna oder dem Konsens, Regeln für all diejenigen Fälle ableitet, die zwar den konkreten Fall nicht explizit erfassen, aber Parallelen zu bereits gelösten Sachverhalten aufweisen. Der Analogieschluss ist im Verhältnis zu dem Koran, der Sunna und dem Konsens eine subsidiäre Rechtsquelle; er darf ihnen nicht widersprechen und sie auch nicht abändern. Deshalb wird er auch als eine „Verbindung zwischen der Offenbarung und dem menschlichen Verstand ('aql) bezeichnet.“ Schiiten lehnen den Analogieschluss als Rechtsquelle ganz überwiegend ab und beharren darauf, dass eine weiterführende Ausarbeitung des Gesetzes nur einem von Gott inspiriertem Imam zukommen kann. Die Schiiten rekurrieren zur Rechtsfindung auf die Vernunft ('aql), wobei der Schluss verfehlt wäre, dass sich Schiiten nur terminologisch von den Sunniten unterschieden und qiyas und 'aql im Ergebnis dasselbe Verfahren zur Lösung neuer Rechtsfälle darstellten. Vielmehr wird der Analogieschluss bei der Schia verworfen. Stattdessen wird zur Ausfüllung von Gesetzeslücken auf die Vernunft abgestellt.
Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass über die ausgeführten Rechtsquellen hinaus auch ergänzende Rechtsquellen existieren, die im Übrigen deshalb nicht näher ausgeführt werden, da Schiiten den 'ejtehad in Form von eigenem Urteil (ra'y), „Für-gut-Halten“ (istihsan) und allen anderen Ausformungen, die sich in der sunnitischen Rechtsgeschichte niedergeschlagen haben, vehement ablehnen und als nicht legitim bezeichnen.

4. Auslegungsregeln


Normen sind generell im Hinblick auf ihre zeitliche, räumliche sowie personelle Geltung stets auslegungsbedürftig, so auch die religiösen. Bei Letzteren insbesondere hat es fatale Folgen, würde man diese Normen aus ihrem Kontext und ihrer zeitlich gebundenen Deutung herauslösen und lediglich nach dem Wortlaut beurteilen, so wie es „muslimische Extremisten, ungebildete muslimische Traditionalisten und auch plump anti-islamische Propagandisten“ bisweilen in kulturübergreifenden Dimensionen tun. Denn schon früh stellten sich im Umgang mit koranischen Rechtsnormen Auslegungsprobleme dar, ließ doch der Text durch nicht eindeutige Formulierungen Fragen offen. Die Exegeten unterscheiden zwischen klaren, nicht auslegungsbedürftigen Inhalten und solchen, die diesbezüglich keine Eindeutigkeit aufweisen. Letztere bilden die große Mehrzahl der koranischen Normen.
Der Islam kennt ein ausdifferenziertes Konzept der Auslegungs- und Interpretationsmethoden (tafsir), die sich im Laufe der Jahrhunderte verfeinert haben. Die Methoden und Theorien sind im islamwissenschaftlichen Schrifttum dargelegt. An dieser Stelle sollen allein die Grundzüge der Auslegungsmethoden als Basis für das Verständnis der hermeneutischen Koraninterpretation der Gelehrten nachgezeichnet werden, welche – inspiriert von klassischen Auslegungsmethoden – für eine grundsätzliche Anpassung der Normen an veränderte Bedingungen eintreten.
Nach diesen einführenden Worten sind nun folgende Auslegungsmethoden zu nennen:
Koranlesung (qira'at), Erörterung von historischen Anlässen, die zur Offenbarung bestimmter Verse geführt haben (asbab al-nuzul) sowie die Abrogation (al-nasikh wa-l-mansukh). Während die Koranlesung (qira'at) dem Wesen nach mit der im deutschen Recht bekannten Auslegungsmethode des Wortlauts vergleichbar ist, kann die an den Offenbarungsgründen orientierte Auslegungsmethode mit der historischen Auslegungsmethode nur insoweit verglichen werden, als dass der Blick auf die Offenbarung heiliger Texte gerichtet ist und auch historische Zusammenhänge für das Verständnis der Normen aufgegriffen werden. Schließlich ist die Aufhebung älterer Normen durch neuere (Abrogation, arab. al-nasikh wa-l-mansukh) eine der Sache nach sowohl dem deutschen als auch dem internationalen Recht bekannte Rechtsfigur der materiellen Derogation.
Gegenwärtig eröffnet zunächst die historische Auslegung Möglichkeiten zur hermeneutischen Betrachtungsweise, die gegen unzeitgemäße Auslegungen des Korans etwa zulasten von Frauenrechten dienstbar gemacht werden. Relevant sind hierbei Verse, die Bezug auf Frauen nehmen und gemäß historischer Auslegung als Antworten auf damalige Probleme verstanden werden können, aus orthodoxer Sicht jedoch auf heutige Sachverhalte bezogen werden. Über die historische Auslegung hinaus erweist sich die Auslegungsmethode der Abrogation (al-nasikh wa-l-mansukh) als besonders ertragreich für zeitgemäße Auslegung koranischer Normen, und zwar wenn Konkurrenzfragen zwischen Versen mit voneinander abweichendem Inhalt zu lösen waren. Die Problematik von Versen, deren Aussagen sich widersprechen, wird durch das Dogma der naskh-Regel gelöst, wonach spätere Versen die vorherigen außer Kraft setzen bzw. abrogieren.
Trotz der Existenz der beachtlichen naskh-Lehre haben die Erben des Traditionalismus versucht, progressiven Interpreten jeglichen Spielraum zu nehmen, wenngleich die Debatten über das Wesen und die Bedeutung des Korans keineswegs als abgeschlossen gelten können.
Beispiel 1: Die Haltung des Korans zum Weingenuss und zum Glücksspiel unterliegt im Laufe der Zeit Änderungen, die bis hin zum Verbot reichen. Anfangs sei die Offenbarung neutral gewesen (Sure?2:219), ein paar Jahre später wurden Weingenuss und Glücksspiel zwar nicht dezidiert verboten, jedoch der Verzicht auf das Glückspiel wurde empfohlen und es galt die Empfehlung, nicht betrunken zum Gebet zu kommen (Sure?4:43). Kurz darauf, wohl aufgrund fehlender Bindungswirkung der Norm, wurden beide Handlungen als Satanswerk und größte Sünde verboten (Sure?5:90). Jedenfalls die Kernaussage dieser Betrachtungsweise ist eindeutig. Es werde unmissverständlich bekundet, dass die Offenbarung des unveränderlichen, ewigen Gottes doch veränderlich sei.
Beispiel 2: Ähnlich in den historischen Kontext verortet ist die Aufforderung zur Bekämpfung bzw. Tötung von Heuchlern, wie sie in Sure?4:88 gefordert wird. Insbesondere die kämpferisch formulierte Aufforderung in Sure?2:193 „und kämpft gegen sie, bis niemand mehr versucht, Gläubige zum Abfall vom Islam zu verführen, und bis nur Gott verehrt wird“ kann die hermeneutische Auslegung in einer sehr wichtigen Frage anschaulich machen. Denn zwar werden diese Verse als Rechtfertigung für die Apostasiestrafe herangezogen. Nach der entsprechenden Auslegung anhand der Offenbarungsgründe (asbab al-nuzul) wird von hermeneutisch denkenden Gelehrten darauf hingewiesen, dass diese Verse als rein historische, an bestimmte militärische Auseinandersetzungen gebundene anzusehen sind. Die vermeintlich eindeutige Aufforderung in Sure?2:193, die auf den ersten Blick dahin gehend interpretiert werden könnte, dass Muslime für alle Zeiten die Pflicht hätten, Ungläubige zu bekämpfen bzw. zum Islam zu bekehren, wird als ausschließlich gültig für ein historisches Ereignis, nämlich die Schlacht von al-Hudaybiyya, verstanden.
Weiterhin betonen Feministinnen, dass es in der islamischen Theologie (dem sog. kalam) allgemeine Rechtssätze (lex generalis) und spezielle Rechtssätze (lex specialis) gibt. Danach existieren im Koran generalisierende Texte, die die Geschlechtergleichheit aufzeigen, aber auch Texte, die an einen spezifischen Kontext gebunden sind und lediglich aktuelle Beispiele des Umgangs mit Frauen aus der Verkündungszeit liefern. Nun generalisieren die Traditionalisten die lex specialis und deuteten die kontextgebundenen historischen Beispiele in allgemeingültige Regeln um und ließen dabei die entstandenen Widersprüche, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten unbeantwortet.
Nach dem Gesagten könnte argumentiert werden, dass, wenn selbst die Offenbarung als Grundgesetz des islamischen Rechts im Rahmen einer rationalen Koranexegese als zeitgebunden betrachtet werden darf, dies erst recht für die 'hadithe des Propheten gelten muss, denen quasi der Charakter einfachgesetzlicher Normen zukommt. Damit wäre die theoretische Öffnung der Dogmatik für zeitgemäße Veränderungen hinsichtlich der Frauenrechte gegeben. Bekräftigt wird eine solche Sichtweise dadurch, dass die islamische Rechtswissenschaft im Laufe der Geschichte immer im Sinne einer rationalen Erkenntnis und nicht als eine religiös-geistliche Disziplin verstanden wurde. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass sich Entwicklungen und Differenzen im Laufe der Geschichte bei mannigfaltigen, falsifizierbaren und von logischer Beweisführung und gegebenen Tatsachen abhängigen Urteilen der Rechtsgelehrten (sogar innerhalb einer Generation) gezeigt haben. So etwas wäre nicht möglich gewesen, wenn es keine Dynamik der islamischen Rechtslehre gegeben hätte, da religiös-geistliche Größen in der Regel fest und unveränderbar sind. So treten auch schiitische Gelehrte und Denker heute für eine hermeneutische, die historische Dimension betrachtende Lesart der Offenbarungstexte ein. Sie versuchten, die Scharia mit modernen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten in Einklang zu bringen.

Zusammenfassung


Es ließe sich festhalten, dass Schiiten und Sunniten den Koran als authentische und primäre Rechtsquelle betrachten, im Übrigen aber gravierende Unterschiede im Hinblick auf die weiteren Rechtsquellen aufweisen, weshalb ihr Normenmaterial nicht kongruent ist. Weiterhin wird bei Schiiten die Analogie durch Vernunft ('aql) ersetzt; der Analogieschluss scheidet somit als Rechtsquelle für Schiiten aus. Besonders relevant für einen zeitgemäßen Umgang mit Rechtsnormen ist die im schiitischen Islam sehr bedeutsame selbstständige Bemühung ('ejtehad) der Rechtsgelehrten, da die selbstständige Rechtsfindung nach der herrschenden Meinung der Schiiten jedenfalls mehrheitlich als nicht beendet gilt.
Das islamische Recht schiitischer Prägung gewinnt dadurch Spielräume für die Interpretation der Normen und neuer Sachverhalte. Das Prinzip 'ejtehad verleiht der Rechtsfindung bei grundsätzlicher Bejahung islamischer Grundsätze einen dynamischen Charakter. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass die Spannung zwischen idealtypischer Scharia und der materiellen Rechtswirklichkeit kein neuzeitliches Phänomen ist und schon immer eine Herausforderung der islamischen Geschichte darstellte. Folgte man diesem Ansatz, so wäre eine zeitgemäße Änderung der Normen möglich.