Kriminalität

Das Kaukasus-Emirat:

Eine neue Gefahrenquelle für Europa?

Ideologie des KE


In den westlichen Diskussionen um die Ideologie des KE werden oft Argumente ohne kritische Reflexion vorgetragen. Dabei mangelt es kaum an einschlägigen Informationen, die die unaufgeregte Wahrheitssuche ermöglichen. Zahlreiche Internetauftritte und Foren des KE legen Zeugnis davon ab, an welche Ideologie sich der kaukasische Dschihad anlehnt. Meldungen über grenzüberschreitende Bewegungen der nordkaukasischen und zentralasiatischen Kämpfer sind ebenfalls gut dokumentiert.7 So lassen sich in transnationalen Dschihad-Foren Video-Ansprachen der nordkaukasischen Kämpfer aus dem Chorasan (Afghanistan-Pakistan) finden, die ihrem Emir Unterstützung im Kampf für einen islamischen Staat im Nordkaukasus aussprechen. Auch die in Deutschland nicht unbekannte Islamische Dschihad-Union (die Auftraggeberin der Sauerland-Bomber) solidarisierte sich mit dem KE. Pressemitteilungen und Kampfberichte aus dem Nordkaukasus werden regelmäßig in transnationalen dschihadistischen Internetforen veröffentlicht. Im Dezember 2010 startete das Forum Ansar al-Mudschaheddin eine Kampagne zur Unterstützung des KE. Auch umgekehrt gilt: Inzwischen gibt es keinen nennenswerten Dschihad-Ideologen, dessen Texte in russischer Sprache online nicht verfügbar wären. 
In der internationalen Dschihad-Bewegung nahm Tschetschenien spätestens seit 2001 neben Afghanistan einen prominenten Platz ein und avancierte zu einem „Dauerthema von Qaida-Größen“.8 Propagandistisch wurde der Dschihad „zu einer zentralen Säule des Islam“ erklärt, durch den „das Herz der muslimischen Welt“ in die Frontstaaten verlagert würde.9 Als Beispiel kann ein Text von Ayman al-Zawahiri, dem Veteranen des afghanischen Dschihad, gelten: Im „Ritter unter dem Banner des Propheten“ (2001) lässt er sich über angebliche Hauptverbrecher aus, zu denen er auch Russland zählt, und ruft die internationale Dschihad-Allianz dazu auf, „sich um die kämpfenden Staaten herum zu scharen und diese zu unterstützen“.10


Bild 4: Umarow: „Diese Zivilbevölkerung schonen und nicht angreifen!“


Als historische Vorbilder des zu etablierenden pankaukasischen Gebildes fungieren hierbei die islamischen Imamate bzw. Emirate, die unter Mansur Uschurma im 18. Jahrhundert, Imam Schamil zwischen 1832 und 1859 sowie unter Scheich Usun Hadschi in den Jahren 1919 bis 1920 im Nordkaukasus bestanden hatten. Die Geschichte des nordkaukasischen Dschihad gegen das Zarenreich und die Sowjetunion gilt den KE-Ideologen als soziokulturelles Vorbild, während der Islam als das dominante Mobilisierungsmedium fungiert. Das islamistische Prinzip lautet: „Es gibt keine Religionsvielfalt, es gibt nur zwei Religionen – der Islam und das Heidentum. Ebenso gibt es keine Vielfalt von Staatsformen sondern lediglich zwei Typen – ein auf der Gottesmacht beruhender Staat und ein Staat, der auf der Macht des Taghut fußt.“11 
Entscheidend für die erfolgreiche breitenwirksame Implementierung der Trägerideologie des KE ist vor allem die aktive Einbindung der muslimischen Jugend. Für die Neuausrichtung des bewaffneten Kampfes käme ihr eine besondere Rolle zu.12 Die postsowjetischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Nordkaukasus haben für solche Argumentationsmuster anscheinend ein offenes Ohr. Einer repräsentativen Umfrage zufolge halten zwölf Prozent der Schüler und Studenten in dagestanischen Großstädten den militanten Dschihad für legitim, während sich 20 Prozent der Befragten zu den Salafisten zählen und für die Scharia aussprechen. In ländlichen Gebieten dürften die Zahlen noch etwas höher ausfallen.

KE im europäischen Kontext



Die Gefahren und Risiken für Europa wie Deutschland hängen vor allem mit möglichen Radikalisierungsprozessen in der tschetschenischen Diaspora und – aus normativer Sicht – mit der logistischen wie finanziellen Unterstützung des KE zusammen. In einer Ansprache an die Mitbürger im Ausland forderten die tschetschenischen Feldkommandeure ihre Landsleute ausdrücklich auf, den Kampf zu unterstützen. Deutsche Nachrichtendienste registrieren entsprechende Aktivitäten und steigende Anhängerschaft des KE unter den in Deutschland wohnhaften Tschetschenen. Sollen die Informationen stimmen, dass die Zahl der Asylbewerber aus Tschetschenien Mitte Juli 2013 auf 9000 gestiegen ist, wären die Bedenken der Nachrichtendienstler bezüglich möglicher Anschlagsplanungen auf deutschem Boden nicht unberechtigt.


Auch deutsche Dschihadisten sympathisier(t)en mit dem Kampf im Nordkaukasus. Mit Blick auf die Beobachtung der Radikalisierungsprozesse sowie die Verhängung und/oder Durchsetzung der Ausreiseverbote tragen deutsche Ermittlungsbehörden daher ebenfalls eine große Verantwortung. Denn die Sauerlandbomber wie die in Pakistan aktiven Bonner Islamisten Choukas hatten ursprünglich unter anderem vor, in Tschetschenien zu kämpfen, und sie sind nur zufällig bzw. zwecks Ausbildung nach Pakistan gelangt. Im Oktober 2010 mussten deutsche Ermittler gegen drei mutmaßliche Islamisten wegen Verabredung zu Terroranschlägen in Russland vorgehen. Die mobilisierende Wirkung des nordkaukasischen Aufstandes brachte bereits Anfang der 2000er Jahre deutsche Islamisten dazu, sich an bewaffneten Kämpfen im Süden Russlands zu beteiligen. So reiste 2002 eine Gruppe aus dem Umfeld des Multikulturhauses in Neu-Ulm über die Türkei nach Tschetschenien. Abgesehen von einem verschollenen Deutsch-Türken starben Mevlüt Polat, Tarek Baughdir und der deutsche Konvertit Thomas Fischer im Oktober bzw. November bei Feuergefechten in tschetschenischen Wäldern. Der erste „prominente“ Konvertit aus Deutschland mit Verbindungen zu Al-Qaida, Christian Ganczarski, wurde im Frühling 2001 mit seinen britischen Mitstreitern an der Grenze zu Tschetschenien in Gewahrsam genommen. Auch heutzutage wird der bereits seit Jahren abklingende Dschihad in Tschetschenien propagandistisch ausgeschlachtet. Die Rahmenbedingungen im Nordkaukasus haben sich jedoch gewandelt, so dass die Einreise nicht ohne Weiteres möglich bzw. deutlich aufwendiger geworden ist. Nichtsdestotrotz soll eine besondere Aufmerksamkeit den deutsch-türkisch-zentralasiatisch-nordkaukasischen Netzwerken gelten.


Bild 5: „Dschihad-Rapper“ Denis Cuspert besingt den Kampf in Tschetschenien 

Aktivitäten tschetschenischer oder allgemein russländischer KE-Unterstützer in Europa sind in den vergangenen Jahren mehrmals gemeldet worden. So verletzte sich im September 2010 ein belgischer Staatsbürger tschetschenischer Herkunft, Lors Doukaiev, in Kopenhagen bei dem Versuch, eine Bombe zu präparieren, die an die dänische Zeitung „Jyllands-Posten“ geschickt werden sollte. Doukaiev soll mehrfach zu Besuch in Deutschland gewesen sein und eine Salafisten-Gemeinde in Bremen besucht und dort übernachtet haben. Am 23. November 2010 haben die Sicherheitsbehörden der Niederlande, Deutschlands und Belgiens Mitglieder des Sharia4Belgium-Netzwerkes und eine „tschetschenische“ Zelle festgenommen. Festgehaltene waren verdächtig, Anschläge in Belgien zu planen sowie das KE finanziell zu unterstützen und Dschihadisten für den Nordkaukasus zu rekrutieren. Ein weiterer tschetschenischer Verdächtiger, Aslambek I., ging den österreichischen Ermittlern auf dem Flughafen Wien-Schwechat ins Netz. Er gilt als Anhänger von Doku Umarow und soll geplante Anschläge auf NATO-Ziele in Belgien logistisch unterstützt haben.