Jugend und Gewalt – gewalttätige Jugend

In Deutschland aber auch in anderen Industrienationen ist das Phänomen Jugendgewalt keineswegs vollständig geklärt. Psychologen und Pädagogen und Kriminologen entwickelten in diesem Zusammenhang zahlreiche Erklärungsmodelle, um darauf aufbauend Gewaltminderung und Gewaltprävention betreiben zu können. Ziel ist dabei Gewalt als Phänomen zu fassen und die Gesellschaft zu befrieden. Gewalt hat zahlreiche Facetten, die in verschiedenen Formen und in den unterschiedlichsten Bereichen des menschlichen Zusammenlebens anzutreffen sind. Lange sind wir davon ausgegangen, dass sich im Prozess der Zivilisation die Menschheit humanisiert und zivilisiert und dass damit eine Kontrolle der Affekte und eine Domestizierung der Gewalt einhergehen. Doch ist Gewalt immer noch eine soziale Realität, eine Art anthropologische Konstante. Sie erfährt in vielen Bereichen eine regelrechte Perfektionierung und Technisierung.

Dr. Marwan Abou-Taam,
Mainz

Der Forschung zu Jugend und Gewalt kann man entnehmen, dass Gewalthandlungen Aufmerksamkeit erregen sollen, sie sind attraktive Handlungsalternativen, um sich Gehör zu schaffen. Attraktiv im besonderen Maße für jene, die aus verschiedenen, auch intellektuellen Gründen nicht fähig oder nicht willig sind, sich anders zu äußern. Aggression, Gewalt und Kriminalität müssen demnach aus dem Entwicklungs- Sozialisationsverlauf von Kindern heraus erklärt und gedeutet werden. Dabei müssen nicht nur verschiedenen Phasen individueller Entwicklung betrachtet werden, vielmehr müssen wir diese im Kontext gesellschaftspolitischer, kultureller und ökonomischer Realitäten interpretieren.

Jugend eine komplizierte Phase
Während der Adoleszenz setzt die psychosexuelle Entwicklung der Jugendlichen (Pubertät) Energien frei, die kontrolliert werden müssen. Sie führen zu einer Zunahme an Impulsivität, Aggressivität und Neugier. Jugendliche sind normalerweise körperlich und geistig imstande, selbstständig damit umzugehen. Sie lösen sich von der Familie und lehnen sich an die Gruppe der Gleichaltrigen, die für sie zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Eltern verlieren in dem Maße an Einfluss, wie Freunde und andere Autoritäten an Einfluss gewinnen. Diese Phase ist besonders sensibel, denn der Übergang in die Gruppe birgt neben den Chancen der Selbstfindung auch Gefahren der Orientierung an falschen Idealen. Wir beobachten zunehmend, dass innerhalb von bestimmten gesellschaftlichen Milieus insbesondere bei der Jugend ein Gefühl kollektiver Frustration und Wut durchgesetzt, das bei vielen dazu führt, dass all diejenigen, die erfolgreich ihre Interessen durchsetzen, als Unterdrücker bzw. Aggressoren gesehen und damit zu legitimen Zielen für Gewalt definiert werden. Die betroffenen Jugendlichen befinden sich gewissermaßen in einer Sinnkrise, verursacht durch radikale gesellschaftliche Veränderungen. Eine schnelle Glitzerwelt wird ihnen medial vorgetäuscht, an der sie niemals teilnehmen werden können.

In Mitten einer Identitätsdiffusion, in der es eher darum geht wer man ist und damit was man nicht ist, scheitert unsere Lebenswirklichkeit daran einem Teil der Jugend Identifiaktionspfeiler zu geben. Subkulturelle Gruppen treten in diese soziale Lücke. Sich solchen Gruppen anzuschließen, ist ein Versuch, die eigene Identität zu finden. Betroffene bekommen dadurch die Möglichkeit, sich in eine soziale Gruppe einzugliedern, die ihnen eine feste Rolle zuordnet, in der sie sich einbringen können. Die Gruppe, bestehend aus gleichdenkenden und aus einer ähnlichen Situation kommenden Menschen, ist die neue schutzbietende „Familie„. Die Möglichkeit, sich einer solchen Gruppe anzuschließen, verleiht dem Einzelnen eine Gruppenidentität mit klaren hierarchische Strukturen und Wertevorstellungen. Die propagierten und meist gelebten Normen der Gruppe bieten eine nicht zu unterschätzende Orientierungsfunktion. Sie typisieren erlaubtes und verbotenes Handeln jenseits der komplexen Realität und vereinfachen die Wahlmöglichkeiten, in dem sie eine Selektierung möglicher Optionen vornehmen, koordinieren sie die Austauschbeziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern und der Außenwelt. Dadurch verleiht die Gruppe dem Einzelnen ein Gefühl der Stärke. In dieser Komplexen Situation verursacht die Strafrechtliche Verfolgung durch den Staat eine Selbstwertgefühlerhöhung, die vorher nie erreicht wurde.

Gewalt – Ein Gruppenphänomen
Interaktionen innerhalb der Gruppe bewirken, dass über einen längeren Zeitraum hinweg, Rollenmuster Interaktionsketten und Gruppenstrukturen entstehen und bestimmte Gruppenziele, Werte und schließlich ein Kollektivbewusstsein und somit eine Gruppenidentität entwickelt werden, die als Handlungsmaßstab das Verhalten der Gruppenmitglieder vorschreiben. Den Gruppenmitgliedern wird ermöglicht, bei Nichtbefolgung bestimmter Handlungsweisen ein Mitglied zu sanktionieren oder bei einem vorbildlichen Verhalten zu belohnen. Somit entwickelt sich die Gruppe zu einer Kontrollinstanz, denn jede Aktion der Gruppenmitglieder kann an den Werten der Gruppen gemessen und bewertet werden.



Die Entstehung eines Zusammengehörigkeitsgefühls einer Gruppe hat automatisch zur Folge, dass sie zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern unterscheidet, so dass die Gruppenmitglieder von dem Rest der Gesellschaft abgegrenzt werden. Wie bereits oben erwähnt, liefert die Gruppe eine Gruppenidentität, die die individuelle Identität mit all ihren Schwächen überschattet. Zwischen den Gruppenmitgliedern entwickeln sich im Laufe der Zeit existenzielle Bindungsverhältnisse.

Daraus ergibt sich, dass Ansehen und Ruf innerhalb der Gruppe, das hierarchische Aufsteigen und die Akzeptanz durch die Mitglieder weitaus wichtiger als die Wahrnehmung von außen sind. Die Hauptstrategie bei der Realisierung dieses Ziels ist die Gewalt. Durch die Gewalt signalisiert die Gruppe den Mitgliedern nicht nur ihre Aktivität und Schlagkraft, vielmehr verschlechtern Gewalt und Kriminalität die Chancen der Reintegration und schaffen ein Moment der Verfolgung durch die Sicherheitsapparate. Die Isolierung der Gruppe von der Gesellschaft verschärft die Abhängigkeit der einzelnen Gruppenmitglieder.

Gewalt festigt somit die Gruppenidentität und den Zusammenhalt der Gruppe und löst erhebliche gruppendynamische Prozesse aus. Somit gilt die Gewalt als Beweis der Zugehörigkeit und wirkt nach außen hin in ihrer für Außenstehende anmutenden Irrationalität als Selbstzweck. Für die Gruppe hingegen gibt die Ausübung von Gewalt dem Einzelnen die Möglichkeit des Aufstiegs/ Karrieremachens innerhalb der Gruppe. Durch die Gewalt schafft man sich Ansehen.

Was tun?
Gewalt ist im Gesamtkontext eher eine Kompensation einer sichtbaren und rational messbaren Schwäche und Ausdrucksform einer tiefgreifenden Unsicherheit. Sie ist in den meisten Fällen eher ein Ausdruck narzisstischer Wunden und ein letzter Versuch, sich einen Platz in der Gesellschaft zu sichern. Die Zahl der Gewaltdelikte von Jugendlichen, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst werden, hat seit etwa 1990 stark zugenommen. Parallel dazu hat sich die Gesellschaft ebenfalls stark verändert. Sie liefert nicht ausreichend lebbare Vorbilder, die Familie als Grundeinheit übersteht vielerorts nicht mehr den Außendruck, zentrale Werte werden selbstverständlich in Frage gestellt, so dass Normen und Grenzen stark verwischen. Die-se Entwicklung trägt zur Diffusität von Identität bei jenen jungen Menschen bei, die im Begriff sind ihre Identität zu erarbeiten. Jugendliche mit einer diffusen Identität haben ein niedriges Selbstwertgefühl, sind impulsiv und ziehen sich von anderen zurück. Für Jugendliche aus den unteren sozialen Schichten ist es jedoch sehr schwer, die schnelllebigen Trends der Jugendkultur mitzufinanzieren und deren Zukunftsvorstellungen zu realisieren. Dadurch werden sie dazu verleitet, die sozialen Normen der Jugendkultur mit illegalen Mitteln zu erreichen. Hinzu kommt, dass die kulturellen Muster vieler Subkulturen sich nicht mit unserem Rechtsystem vereinbaren lassen. Wachsen Kinder sogar in einer Umgebung auf, in der kriminelle Normen Vorrang haben und prosoziales Verhalten abgelehnt wird, dann wird dieses System zu dem einzigen Referenzsystem im Leben der Kinder/Jugendlichen. Diese Kinder/Jugendlichen lernen, dass kriminelles Verhalten eine effektive Lebensbewältigungsstrategie ist, die von den Bezugspersonen in der Umgebung belohnt wird.

Die physische Gewalt muss sicherlich bestraft werden. Allerdings wissen wir, dass Bestrafung, die zeitverzögert eintritt, von dem Akteur nicht mehr mit dem eigentlichen Verhalten verknüpft wird. Auch wirkt Bestrafung wesentlich besser, wenn mit einer relativ hohen Strafe begonnen wird, und nicht erst bei wiederholtem Übertreten der Regeln die Strafen ansteigen, wie es in unserem Rechtssystem meist gehandhabt wird. Ziel soll jedoch immer sein, junge Menschen in die Gesellschaft zurückzuführen. Dafür reicht es nicht aus, sie mit den Folgen ihres Handelns zu konfrontieren. Die Ursachen des Abrutschens in die Kriminalität müssen systematisch abgearbeitet werden. Hierbei darf man die Macht von Vorbildern nicht unterschätzen. Der geduldige Umgang mit Herausforderung muss erlernt werden. Eine positive Grundeinstellung hinsichtlich von Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten muss sich durchsetzen. Dabei ist die Stärkung der wertevermittelnden Familie als zentralste Grundeinheit der Gesellschaft einer der wichtigsten Eckpfeiler eines Gesamtkonzeptes, das Schule, Jugendämter, Medien, Polizei, Sport- und freizeitgestaltende Vereine miteinander verbindet. Man muss den betroffenen jungen Menschen beibringen, wie sie Situationen richtig einschätzen, denn oft interpretieren auffallend aggressive Personen Situationen, die nicht eindeutig sind, als aggressiv und reagieren unangemessen. Erst wenn sie lernen Probleme zu Bewältigen und Erfolgserlebnisse zu genießen, ändert sich ihre negative Grundeinstellung gegen-über ihrer Umgebung.

In diesem Prozess verfügt die Gesellschaft zwar über eine große Gestaltungsmacht, muss jedoch eine noch größere Verantwortung wahrnehmen. In unserer Gesellschaft verringert sich das Zusammenleben mehrerer Generationen, so dass Kinder und Jugendliche dem Druck ausgesetzt werden, Sinnzusammenhänge selbst herzustellen oder aus den Massenmedien auszuwählen.