Zehn Jahre, das ist viel...

Zehn Jahre, das ist viel. Lebenslänglich ist zu viel!
Themenbereich: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder
Von Jörg-Michael Klös, Kriminaldirektor, Berlin

Jörg-Michael Klös,
Kriminaldirektor, Berlin

Zur Situation
Mit erschreckender Regelmäßigkeit finden sich in den Tageszeitungen auch Meldungen über Sexualdelikte an Kindern. Zumeist bleibt jedoch nur wenig Raum für diese Thematik. Der Leser überblättert mitunter, überfliegt häufig, liest eher selten derartiges. Die Information, der Fall an sich, berührt nachvollziehbar aber tatsächlich erst, wenn man sich mit den Details befasst. Wer aber lässt ein solches Problem schon ohne Not und freiwillig an sich heran? Ich zum Beispiel. Jedoch ist meine Situation kein Maßstab für die Allgemeinheit, schließlich war ich von 1993 bis 1998 Leiter des Dezernates für Sexual- und Kinderschutzdelikte im Berliner Landeskriminalamt. Die seinerzeit gemachten Erfahrungen werde ich wohl nie ablegen oder vergessen, will es aber auch gar nicht.


Unter diesen Umständen liest der Betroffene zweifellos bewusster. Fakt ist, dass es seit je her ein erhebliches Dunkelfeld im Bereich der Sexualdelikte an Kindern gibt. Vieles wird weder der Polizei noch der Öffentlichkeit bekannt. Bei Taten durch enge Bezugspersonen aus dem sozialen Nahbereich liegt das Dunkelfeld schätzungsweise bei 1:20 und höher, zu Fällen des Missbrauchs durch Fremdtäter sprechen die Experten von einer Latenz in der Größenordnung von 1:10, was bedeuten würde, dass auf eine polizeilich registrierte Tat zehn unentdeckte Sachverhalte kommen. Damit wird schlagartig klar, welche Dimension sich hinter diesem Thema generell und hinter jeder entsprechenden Zeitungsmeldung speziell verbirgt.

Veröffentlichung und öffentliche Wahrnehmung
Letztmalig vor Fertigstellung dieses Beitrages hatte ich am 6. und 19.Januar 2006 in der Berliner Tagespresse derart relevante Artikel entdeckt.
Unter der Überschrift „Haftstrafe für jahrelangen Missbrauch“ war Anfang des Jahres im Berliner Tagesspiegel folgender Text zu lesen:

Jahrelang verging sich ein Gastwirt aus Tempelhof an den drei Töchtern seiner Lebensgefährtin. Vor dem Landgericht legte der 42-Jährige gestern ein Geständnis ab. Demnach hatte er die anfangs acht- bis 13-jährigen Mädchen zwischen 1999 und 2003 in mehr als 50 Fällen sexuell missbraucht. Die Richter verurteilten ihn zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Der Angeklagte habe seine Vaterrolle sowie das damit verbundene besondere Vertrauensverhältnis ausgenutzt und die Kinder nacheinander missbraucht, hieß es im Urteil. Strafmildernd wurde dem Angeklagten angerechnet, dass er mit dem Geständnis seinen Opfern eine Aussage vor Gericht erspart hatte. Eines der Mädchen hatte über ihre Anwältin mitgeteilt, dass sie noch immer Angst vor dem Angeklagten habe und für sich und ihre Schwestern wünsche, von ihm in Ruhe gelassen zu werden.

Der Beitrag fand sich zwischen zig anderen mehr oder weniger wichtigen Informationen in einer Aufmachungsgröße von 10 x 6,5cm. Bei 57 x 40cm Blattgröße und dreißig Seiten doppelt bedrucktem Papier ist das nicht viel. Ein spektakulärer Verkehrsunfall oder gar ein Überfall auf ein Geschäft hätte mehr Resonanz erzeugt. Aber das ist leider nun einmal so. Drei über Jahre hinweg missbrauchte Kinder in mehr als 50 Fällen, das ist viel. Drei Jahre und drei Monate Haft für drei zerstörte Lebensperspektiven wirken dagegen wie ein Hohn. Aber auch das ist trauriger Standard. Es kommt da auf mehr oder weniger Taten, ein paar zusätzliche Opfer oder besonders perfide Vorgehensweisen weniger an, da wird exemplarisch angeklagt, eine Gesamtstrafe gebildet und das war’s. Nein, nicht ganz, denn eines ist schon noch von Bedeutung: Die Strafmilderung aufgrund eingeräumter Tathandlungen, wodurch den Opfern erspart bleibt, vor Gericht aussagen zu müssen.
Großzügig übergangen wird dabei jedoch häufig, dass die Täter in der Regel nur genau das zugeben, was ohnehin bereits zweifelsfrei bewiesen ist und zumeist durch Foto- oder Filmaufnahmen in Form von kinderpornografischen Erzeugnissen vom Gericht wahrgenommen werden könnte. Ich bleibe hier bewusst im Konjunktiv, denn dass die Beweismittel dort auch tatsächlich in Augenschein genommen werden, ist leider nicht immer der Fall.
Der Meldung der Berliner Morgenpost vom 19. Januar 2006 mit dem Titel „Haftstrafe für Missbrauch einer 13-jährigen“ war zu entnehmen, dass ein Familienvater ein ihm bis dahin fremdes Mädchen ansprach, da er dieses „attraktiv“ fand. Er sei ihr in den Hauseingang gefolgt und habe 50 Euro angeboten, worauf sie aber nicht reagiert hätte. Daraufhin war er mit ihr in den vierten Stock gefahren, habe sie in eine Ecke geführt und Oralsex verlangt. „An ihrer Reaktion habe ich gemerkt, dass ich zu weit gegangen war“, wird der Täter zitiert. Donnerwetter, denke ich beim Lesen, doch „schon“, zu diesem Zeitpunkt!Das Gericht wertete das ganz anders. Es hielt dem Vater zweier Kinder dessen tiefe Reue zugute und milderte die Strafe zusätzlich wegen des Geständnisses, wodurch der zierlichen Schülerin die Anhörung vor Gericht erspart blieb. Das Strafmaß: Zwei Jahre und elf Monate. Was wäre sonst noch erwähnenswert? Nun, vielleicht, dass das Kind sich nach der Tat nicht mehr alleine aus dem Haus traut, die schulischen Leistungen einen Einbruch erfuhren, aber eine Kur und Therapie hoffentlich Besserung bringen werden. Ob dieses Mädchen jemals in ihrem Leben wird unbeschwerte Zweisamkeit mit einem anderen Menschen erleben sowie grenzenloses Vertrauen wieder aufbauen und das Erlebte verarbeiten können und wollen? Zur Abrundung der Darstellung noch die Information, dass der Missbraucher bereits im Juni 2004 wegen sexueller Nötigung zum Nachteil einer Maklerin zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden war.
Beiden Sachverhalten ist neben dem von mir als eher gering empfundenen Strafmaß gemein, dass den Tätern bei der Strafzumessung ihr Geständnis zugute kam, schließlich wurde Dank der Kooperationsbereitschaft das Risiko einer sekundären Viktimisierung (erneute/zweite Opferwerdung) der Geschädigten im Hauptverfahren vermieden.
Aber wer sagt denn, dass es das kindliche Opfer grundsätzlich und immer als positiv wertet, nicht gehört zu werden? Im Gegenteil gibt es Aussagen von Kindern, in denen sie ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck brachten, nicht die Chance erhalten zu haben das zu sagen, was sich abgespielt hat. Und ihre Verbitterung darüber, dass der Täter für Teilaussagen oder Halbwahrheiten auch noch belohnt wird, ohne dass die zumeist einzige Person, die neben dem Täter die ganze Wahrheit kennt, Gelegenheit bekommen hätte, dieses zu verhindern! Da gerade diese Kinder leidvoll gewohnt sind, fremdbestimmt zu sein, sollte hierzu ein Umdenken erfolgen. Dass gerichtliche Verhandlungssituationen selbstverständlich gut vorbereitet, betreut und temporär eben auch kindgerecht gestaltet werden müssen, ist klar. Eine Untersuchung zur Belastungssituation kindlicher Opferzeugen Mitte der 90’er Jahre in Berlin durch die Forschungsgruppe Kinder und Jugendliche der Abt. Psychiatrie und Neurologie des Kindes- und Jugendalters, Projektleitung: Prof. Dr. med. Ulrike Lehmkuhl und Dr. med. Jörg M. Fegert von der Freien Universität Berlin, Universitätsklinikum Rudolf Virchow, hat im Übrigen ergeben, dass verfahrensbedingte Negativauswirkung bei sachgerechtem Vorgehen keinesfalls zwangsläufig und immanent sind.
Zudem hat sich gerade in dem Bereich des Schutzes kindlicher Opferzeugen in den letzten Jahren vieles zum Besseren entwickelt. Stichworte wie Videovernehmung, kindgerecht ausgestaltetes Betreuungs- und Anhörungszimmer im Gerichtsgebäude mit Onlineübertragungs-
möglichkeit direkt in den Verhandlungssaal, wodurch das Anwesenheitserfordernis des Kindes im engeren Sicht- und Kontaktbereich des Täters verhindert wird, Zeugenbetreuungsrecht gem. §48 StPO, §406f III StPO, stehen exemplarisch dafür.

Wenn also – und so sollte es ja schließlich sein – die Hauptverhandlung der Wahrheitsfindung dient, wäre es an der Zeit, sich grundsätzlich von althergebrachten und konzessionsgetragenen sowie täterbegünstigenden Zugeständnissen im Hinblick auf vermeintliche Opferschutz-
aspekte zu verabschieden. Dass die individuelle Situation, also der Einzelfall, möglicherweise dann doch einer anderen Entscheidung bedarf, bleibt unbe-nommen.

Was wiegt schwerer: Fremdtäterdelikt oder Beziehungstat?
Es ist relativ vermessen anzunehmen, hinsichtlich dieser Problematik eine allgemeingültige und realistische Antwort zu finden. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist immer, egal durch welche Täter/innen, fatal. Gleichwohl spielen die Qualität der Tathandlung, die Quantität der Übergriffe, die Tatsituation an sich und das subjektive Erleben des Kindes schon eine prägende Rolle.
Auf den ersten Blick erscheint es plausibel, dass sich die Angst der Eltern (und damit vermutlich auch der Kinder, also der potentiellen Opfer) auf den überfallartig vorgehenden Fremdtäter konzentriert. Das eigene Kind dem Fremden in schutzloser Situation ausgeliefert zu wähnen, wäre furchtbar.
Rein rational betrachtet muss aber festgestellt werden, dass der spontane Übergriff durch den Fremdtäter eher die Ausnahme darstellt, fast immer ein einmaliges Negativerlebnis für das Kind bleibt und dass das Opfer nach dem Tatgeschehen durch die Eltern und sein soziales Umfeld aufgefangen sowie in ärztliche und psychologische Betreuung gegeben werden kann. All diese Dinge gelten für den Missbrauch, der im sozialen Nahbereich stattfindet, nicht. Diese Taten sind so gut wie nie einmalige Ausnahmesituationen und es ist kein Umfeld da, welches das Opfer auffängt, geschweige denn in ärztliche oder psychiatrische Obhut gibt. Statt dessen setzt sich der Missbrauch über Jahre fort, oft in qualitativ wie quantitativ zunehmender Ausprägung und ohne jede Hoffnung auf ein Ende oder Hilfe. Signale an die Mutter werden mitunter bewusst, zumeist unbewusst überhört, negiert oder offen als „Unfug“ bzw. böswillige Verleumdung abgetan.
So summieren sich während des Zeitraumes kindlicher Entwicklungsphasen Stunden, Tage und Monate zu Jahren in Not und Angst. Jeden Moment kann es wieder passieren. Immer wieder gibt es da die schlimmen Situationen, wo das Kind instinktiv merkt, dass ein neuerlicher Übergriff unmittelbar bevorsteht, z.B. wenn die Mutter für längere Zeit aus dem Haus ist, zur Nachtzeit, auf Urlaubsreisen etc.. Das Kind erkennt die tatbegünstigende Konstellation und die Atmosphäre durchaus, kann sich dem Geschehen aber aufgrund der strukturellen Gewalt nicht entziehen.

Neben der Angst vor dem Geschehen und auch vor körperlichen Schmerzen, kommt es zu Schamempfinden, Ekel, Hilflosigkeit, Selbstvorwürfen und dem Gefühl, nein, der Gewissheit, sich im Sinne einer verfügbaren Ware benutzen lassen zu müssen. Das enge Beziehungs-geflecht, die mitunter unerschütterliche Vertrauensallianz zwischen beiden Elternteilen und die Sprachlosigkeit über das Geschehene machen letztlich mut- und hilflos.

Übergriffe durch außerfamiliäre „Vertrauenspersonen“
Wohl noch problematischer stellt sich die Situation für ein Kind dar, das sich freiwillig in die Obhut einer es später missbrauchenden Person begibt, die das Opfer zuvor für vertrauenswürdig und rechtschaffen hielt. Bis es zum ersten Übergriff kommt, vergeht häufig einige Zeit. Dazwischen stehen gemeinsame Ausflüge, Geld- und Sachgeschenke, offenbarte Zuneigung, Verständnis, suggerierte „Gleichberechtigung“, Anerkennung, Hilfe in allen Lebenslagen als vertrauensbildende Maßnahmen, also Investition. Manchmal rundet gemeinsamer Alkohol-, Nikotin- oder Haschischkonsum das Bild ab.
Wissen die Eltern/weiß die Mutter von dem Kontakt, hätte dieses alles ein jähes Ende, wenn Übergriffe bekannt werden würden. Bevor es dazu kommt, wägt das Kind aber ab und trifft – zumeist – die falsche Entscheidung. Die Frage, wie die Mutter mit einer solchen Nachricht fertig werden würde oder die Gefahr bis hin zur Drohung des Täters, archivierte Bilder/Filme zum Tatgeschehen in der Schule, im Internet oder in Richtung Erziehungsberechtigte zu verbreiten, tut ein Übriges. So bleibt alles beim Alten, bis auf den Umstand, dass die Taten in zeitlich noch kürzeren Abständen stattfinden und die Tatabläufe zunehmend extremer ausfallen.
Wissen die Erziehungspersonen von der Verbindung jedoch überhaupt nichts, ist die Problematik vergleichbar, nur eben gänzlich im Verborgenen bleibend.


Besonders schwierig sind die Dinge, wenn die Eltern selbst ein mehr oder weniger enges Vertrauensverhältnis zu dem Missbraucher pflegen. Da kann das Opfer dann gar nicht erst einschätzen, in wieweit die direkte Bezugsperson von den Handlungen des Täters Kenntnis hat und was durch sie toleriert wird.
Eines ist jedoch ganz klar: Wird der erste Übergriff oder der Versuch hierzu nicht öffentlich gemacht, wird es eine zweite Chance dazu für das Kind nicht mehr geben bzw. wird das Opfer eine solche nicht mehr erkennen. Es wird sich selbst eine erhebliche Schuld an dem zurechnen, was passiert. Schließlich hat es sich ja „freiwillig“ entschlossen, mit und weiter zu machen sowie Geld und Geschenke anzunehmen. Die häufig genau zu diesem Zweck gestellten Fragen der Täter, ob das jetzt so o.k. sei und ob es Spaß macht oder „gut tue“, ebnen den Weg. Zudem wissen die Kinder natürlich ganz genau, dass all das, was ihnen zu Hause fehlt (Zeit für sie, Anerkennung, Zuneigung, Streicheleinheiten, Geschenke, „Gleichberechtigung“ etc.) mit einem Mal zu Ende wäre, wenn sie reden würden. Also wird geschwiegen. Und ertragen.

Ein extremes Fallbeispiel
Viele der vorgeschilderten Umstände spielten auch bei dem Sachverhalt eine erhebliche Rolle, den ich nun darstellen werde. Zu dem Verfahrenskomplex liegt zwar bereits ein Urteil vor, jedoch sind noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft, so dass ich zur Gewährleistung der Anonymisierung personenbezogener Angaben sämtliche Namen verändert habe und von den Daten her nur mit Näherungswerten arbeite.
Der Fall beginnt mit einem Szenario, das von jeder jungen Mutter, die so etwas oder Vergleichbares erleben muss, wie die Verwirklichung einer Horrorvision empfunden werden dürfte.
Es ist Mitte November 2004. Sabine B. liegt zusammen mit ihrem etwa 3½-jährigen Sohn im Bett. Unvermittelt greift ihr der Junge von hinten in den Slip. Auf ihre Frage an Robert, was das denn solle, fällt die Antwort klar aus: „den Puller reinstecken“. Was Sabine danach erfährt, klingt einerseits unglaublich, andererseits berichtet das Kind offen und freimütig, dass der Tim doch auch an seinem Puller genuckelt hätte. Dann habe er Roberts Po eingecremt und schließlich seinen Puller reingesteckt.
Bei den später im Fachkommissariat des Landeskriminalamtes Berlin gemachten Aussagen schilderte der Junge anschaulich Situationen oralen Verkehrs von ihm an Tim und umgekehrt. Auch sei bei Tim „Creme“ rausgekommen, als dieser ihm den Puller in den Po gesteckt habe. Mit dabei seien noch zwei andere namentlich benannte Jungs (Jugendliche, wie sich später herausstellte) gewesen.
Das war der Einstieg in die Ermittlungen, an deren Ende nach sechs Monaten aufwändiger Recherchen die traurige Gewissheit stand, dass sich Tim während der letzten 14 Jahre mindestens an 18 Kindern in über 800 Taten sexuell in massivster Weise vergangen hatte. Darüber hinaus sind viele dieser Handlungen videografiert worden. Neben
diesem kinderpornografischen Material besaß der Täter weitere bei ihm aufgefundene Bilddateien gleicher Zielrichtung, vermutlich aus dem Internet stammend, sowie diverse CD-R, auf denen sich auch noch über 3.000 kinderpornografische Bild- und Videodateien befanden.
Der Tatzeitraum dürfte nach Einschätzung der Fachdienststelle vermutlich noch weitreichender sein, die Anzahl der Opfer und der Übergriffe auch.
Sabine B. hatte den Sachverhalt seinerzeit unverzüglich zur Anzeige gebracht, was eine sofortige Durchsuchung bei dem Tatverdächtigen und dessen vorläufige Festnahme auslöste. Damit war Tim nach etwas mehr als 40 Jahren erstmalig erneut unfreiwillig an einem Ort gelandet, der – soweit ein Aufenthalt dort nicht berufsbedingter Alltag ist- eher von allen gemieden wird: im Gefängnis. Nicht, dass Tim mit Hafterfahrung in jungen Jahren und anschließender Gesetzestreue oder Cleverness, sich nicht erneut erwischen zu lassen, nun doch rückfällig geworden wäre; vielmehr hatte er überhaupt noch keine Freiheitsstrafe verbüßen müssen. Er war noch nicht einmal in den Bereich polizeilicher Ermittlungen gelangt, geschweige denn vorbestraft!
Aufgrund der politischen Situation in Deutschland zur damaligen Zeit hatte seine Mutter noch vor der Geburt des Sohnes den erfolglosen Versuch unternommen, heimlich aus der DDR auszureisen. Republikflucht wurde das genannt und führte in der Regel zu mehr oder weniger langen Haftstrafen. So auch in diesem Falle. Daher erblickte Tim das hier eher wenig einladende Licht der Welt in einer Haftanstalt. Erkennbare negative Auswirkungen oder Spätfolgen hatte diese Episode für ihn aber wohl nicht. Die Kindheit verbrachte er mit Geschwistern zusammen zunächst in der Betreuung durch die Oma, nach der Entlassung der Mutter aus der Haft kümmerten sich beide um den Nachwuchs. Einen männlichen Part in der Erziehungssituation gab es allenfalls temporär und mit mehrfacher Fluktuation in der Person des Rolleninhabers. Damit blieb die Vaterfigur weitgehend unbesetzt, was kriminologisch unter dem Begriff der strukturell unvollständigen Familie zu subsumieren ist.
Während der Jahre der Primärsozialisation zeigten sich keine signifikanten Auffälligkeiten und auch die sekundäre Phase mit Schulzeit und sich anschließender Lehre bei der Deutschen Reichsbahn, die er vorzeitig und mit Auszeichnung beendete, bereitete keine Pro-
bleme. Über Kontakte in der Betriebssportgemeinschaft lernte Tim schließlich seine zwei Jahre jüngere spätere Ehefrau kennen. Nach der Heirat im Alter von 21 Jahren ging er als 24-Jähriger für 18 Monate zum Militär.
Obgleich das junge Glück durch die Geburt einer Tochter nunmehr vollkommen schien, nahm die weitere Entwicklung eine ebenso dramatische wie unverhoffte Wendung, wobei es erste Anzeichen dafür bereits gab, als Tim noch 22 Jahre alt war. Da nämlich ertappte er sich, eigenen Aussagen zufolge, erstmalig bewusst dabei, gleichgeschlechtliche Phantasien entwickelt zu haben. Auslöser dürfte der Einzug eines „schwulen Pärchens“ in der Nachbarschaft gewesen sein, welches Tim scheinbar derart interessiert beobachtete, dass er von einem der beiden deshalb offen angesprochen wurde. Daraus hatten sich recht schnell intensive, nachfolgend intime Kontakte bis hin zum Oralverkehr entwickelt. Über Annoncen und weitere Treffen seien die homosexuellen Verbindungen auch zu anderen hergestellt worden. Ein bereits erfahrener, lebensälterer Sexualpartner habe ihm später geraten, sich scheiden zu lassen.
Zwar hatte Tim seiner Ehefrau schon vor dem Eintritt in den Armeedienst den Hinweis gegeben, dass er „vielleicht schwul“ sei, dazu aber die Antwort erhalten, dass so etwas heilbar wäre. Kurz nach Schluss des Militärdienstes suchte das Ehepaar ein Beratungsgespräch in der zuständigen Fachabteilung der Charité, wo Tim darin bestärkt worden sei, sich von seiner Frau zu trennen. Ende 1988 wurde die Scheidung schnell und unkompliziert vollzogen. Danach gab es für Tim verschiedentlich auch durchaus längere Lebenspartnerschaften, die jedoch nicht ungetrübt blieben. Mitunter fühlte er sich ausgenutzt, bei anderen bemängelte er deren „Fremdgehen“.
Nach der Wende 1990 lernte unser Proband einen verantwortlichen Mitarbeiter einer Wachschutzfirma kennen, mit dessen Hilfe er dort seine Anstellung als Wachmann erlangte. Nach der Firmenpleite absolvierte Tim die Ausbildung zur Werkschutzfachkraft, einschließlich des Waffenscheins. Über den Umweg als Bereichsleiter einer Wachschutzfirma bewarb er sich in der letzten Dekade 1995 erfolgreich für die Laufbahn des Vollzugsbeamten bei der Berliner Justiz, mit zweijähriger Ausbildung.1998 wurde ihm die Anstellung in einer JVA ermöglicht. Zuletzt war Tim dort verantwortlich für den Bereich Arbeitstherapie mit etwa sieben jungen Inhaftierten. Damit war ein Stand erreicht, der den Eindruck vermittelt, dass man mit Tim jemanden vor sich hat, der tatkräftig ist sowie durchaus in der Lage und willens, aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen. Im Prinzip ist das zutreffend, nur nutzte er eben seine Fähigkeiten und Talente überwiegend dazu, das zu erreichen, von dem er meinte, dass es für ihn das Beste sei.
Da er von den Sexual- und Lebensbeziehungen mit Erwachsenen mehrfach enttäuscht worden war, entwickelte er eine pädophile Ausrichtung in Form eines Nebengleises innerhalb seiner Homosexualität, ohne dass derartige Kontakte zu Erwachsenen ab diesem Zeitpunkt abgelehnt oder eingestellt wurden. Jedoch war es für ihn einfacher, unkomplizierter, seine gleichgeschlechtliche Ausrichtung mit und an Kindern auszuleben. Den Kindern gegenüber konnte er seine vermeintliche oder in Teilen tatsächlich vorhandene Empathie, diverse gelernte erfolgreiche Verhaltensmuster sowie Autorität nutzen, um zum Ziel zu kommen. Die Kinder akzeptierten überwiegend die Forderungen, hinterfragten nicht und offenbarten sich nicht. Durch die Befolgung seiner Anweisungen eröffneten sie ihm die Chance der leichten und so gut wie ungehemmten Befriedigung seiner sexuellen Wünsche.
Damit und dadurch hatte die pädophile Ausrichtung des Täters, wie ein Gutachten und das erkennende Gericht übereinstimmend feststellten, zu keiner Zeit Krankheitscharakter im Sinne der Kriterien der Internationalen Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen (ICD 10) erlangt. Für die Schuldzumessung und das für Recht befundene Strafmaß ist es durchaus nicht ohne Bedeutung, dass bei dem Angeklagten eben keine ausgeprägte, ausschließlich auf Kinder fixierte sexuelle Orientierung vorlag, die seine Persönlichkeit, die Richtung seines Denkens, Fühlens und Wollens allein in Dimensionen und Grenzen der Päderastie wahrscheinlich erscheinen ließen.
Gemäß der Anklage begann Tim Ende der 80’er Jahre damit, seine sexuelle Befriedigung durch Vornahme an oder Steuerung sexueller Handlungen von Kindern zu erlangen. In der Realität dürfte dies aber schon vorher umgesetzt worden sein. In all den Jahren knüpfte Tim teilweise über Erstkontakte zu den Müttern der Kinder, teilweise über ihm bereits bekannte Kinder und Jugendliche sowie in wenigen Fällen durch Ansprechen in Szenelokalen bzw. auf öffentlichem Straßenland Verbindungen zu einer Vielzahl späterer Opfer. Dabei kam ihm zu Gute, dass er zu den jungen Leuten den richtigen Ton fand, mit ihnen umgehen konnte und in der Lage war, schnell ihr Vertrauen zu gewinnen. Gleiches galt für die Mütter oder andere Bezugspersonen. Zudem genoss er einen erheblichen Vertrauensbonus, da den Erziehungsberechtigten in der Regel seine berufliche Aufgabe und Stellung bekannt war. Da blieb kaum Platz für Argwohn. Tatbegünstigend wirkte sich auch aus, dass die Mehrzahl der Jungen aus sozial schwachen Familien stammte und ohne Vater aufwuchs. Diese Kinder sind nachvollziehbar besonders empfänglich für jemanden, der ihre Bedürfnisse (Freizeitaktivitäten, Aufmerksamkeit, Zuneigung) befriedigt. Als Gegenleistung erwartet der Missbraucher fatalerweise auch Befriedigung und kalkuliert entsprechend.

Die in derartigen Fällen fast schon typische Situation, dass den Tätern die Kinder faktisch in die Hand gespielt werden, da die häufig allein erziehenden Mütter mit ihrer Lebenssituation überfordert und geradezu erfreut darüber sind, wenn sich Betreuer anbieten, um mit den Kindern etwas zu unternehmen, bis hin zu Wochenendaufenthalten bei ihnen, Kurzreisen, Ferienaufenthalten etc., ergab sich auch im vorliegenden Beispiel. Zwar vermochte das Gericht nicht zweifelsfrei erkennen, dass die Kontakte und Hilfsangebote von vornherein einzig zum Zwecke des späteren Missbrauchs hergestellt wurden, indes darf der Kenner der Szene genau dieses vermuten. Den Einschätzungen der Judikative, dass sich der Angeklagte vielmehr in der Helferrolle gefiel, über diesen Weg seinen Wunsch nach Zugehörigkeit zu einem Familienbund erfüllen und sich damit aufwerten wollte, mag man noch folgen können. Die Feststellung aber, dass der Täter zur Durchsetzung seiner sexuellen Wünsche gegenüber den Kindern keine Gewalt angewendet hätte, verwundert indes. Zwar führte er die Opfer zumeist Schritt für Schritt an die von ihm gewollten Sexualhandlungen unter Ausnutzung des ihm entgegengebrachten Vertrauens heran, jedoch gibt es auch Aussagen gewaltgeneigter Situationen. So sagte der kleine Robert aus, dass der Tim ihm öfter den „Puller“ in den Po gesteckt habe, obwohl es ihm (Robert) weh tat. Ein anderer Junge berichtete, dass sich der Beschuldigte mehrfach darüber hinweggesetzt habe, wenn er einmal nicht so wollte wie Tim. Bei gefordertem Oralverkehr sei dann z.B. der Kopf des Jungen „rüber gedrückt und rangezogen“ worden.
Ähnlich erging es einem zur Tatzeit 14-Jährigen, also bereits Jugendlichen, der im Auto dem Verlangen des Täters erst aus Angst nachgab, als dieser ihm seinen Kopf in die gewünschte Position herunterdrückte. Nach dieser Erfahrung mied der Betroffene jeglichen Kontakt mit Tim und ging ihm bewusst aus dem Weg. Ohne Erfolg aber, denn nun ging dieser in die Offensive und passte sein Opfer vor dessen Haustür ab. Da der Junge befürchtete, Tim werde mit in die Wohnung kommen, fuhr er widerwillig mit in dessen Wohnung, wo es zum gegenseitigen Oralverkehr und weiteren Handlungen kam. Im Verlaufe fertigte der Missbraucher ein Aktfoto, mit Hilfe dessen er ein weiteres Treffen unter der Drohung erpresste, dass andernfalls das Bild ins Internet gestellt werde. Bei diesem Folgetreffen in einem Keller fand erneut gegenseitiger Oral- und Analverkehr statt. Angesichts derartiger Ermittlungsergebnisse ist es kaum verwunderlich, dass die Mitarbeiter des Fachkommissariates des Landeskriminalamtes Berlin den – wenn auch bescheidenen – Positivaspekten des Gerichts zur Person des Angeklagten keinesfalls folgen mochten. Hier erkannte man hingegen ein durchweg geplantes, geradezu strategisches Vorgehen des Täters. Keinem der bekannt gewordenen Fälle dürfte eine einmalige situative Tatgelegenheit zu Grunde gelegen haben, vielmehr hatte der Beschuldigte jeweils zunächst Kontakt zum Umfeld seiner späteren Opfer aufgenommen: Familie, Freunde, Schule. Die Gelegenheiten, übergriffig zu werden und die Handlungen zügig vom „Streicheln“ bis zum vollendeten Analverkehr zu steigern, hat Tim gezielt herbeigeführt. Nicht nur, indem er gemeinsame Übernachtungen initiierte, sondern vor allem auch dadurch, dass er seine eigene Homosexualität offensiv als Thema einführte und geradezu als Vehikel benutzte. Damit zwang er den Jungs eine Auseinandersetzung mit der Materie regelrecht auf und schaffte sich selbst die Möglichkeit, einen real überhaupt nicht vorhandenen Reife- und Verständnisgrad der Kinder sowie deren vermeintliche bzw. suggerierte sexuelle Neugier als Rechtfertigung, ja sogar hilfreich-erzieherische Handlungen zu klassifizieren. Auch die ständigen Rückversicherungen „gefällt es dir?“ etc. vermittelten den Opfern den Eindruck, dass nichts gegen ihren Willen geschehe und sie selbst die Verantwortung für das trügen, was passiert. Dies verstärkte er noch, indem er die Kinder dazu bestimmte, unter seiner Anleitung untereinander sexuell in auch extremen Verhaltensweisen zu agieren. Das spiegelte ihnen in trügerischer Weise „gleichberechtigte Partnerschaft“, quasi erwachsen zu sein, vor. Gleichzeitig machte er seine eigenen Opfer damit zu Mittätern.
Der Umstand, dass keiner der Jungen irgendwo Hilfe suchte oder sich jemandem anvertraute, erstaunt bei dieser Konstellation nicht, zumal gerade bei männlichen Opfern sexueller Gewalt ohnehin eine tiefe Verunsicherung über die sexuelle bzw. Geschlechtsidentität vorherrscht, insbesondere bei jüngeren Betroffenen. Grenze ist die Gefahr, der Ruf oder die Erkenntnis, „schwul“ zu sein, was in der Regel noch immer als Makel empfunden wird.

Obwohl der Täter über seinen Rechtsanwalt hatte mitteilen lassen, dass er mit der Polizei kooperieren und zur Aufklärung der Sachverhalte beitragen wolle, hat er eine ernstzunehmende Anstrengung dahingehend nicht unternommen. Einsilbig wurden nur die Taten zugegeben, die ihm auch nach seiner Bewertung ohnehin zweifelsfrei nachzuweisen waren. Selbst dabei relativierte er noch und versuchte, Abläufe – die über Filmsequenzen objektiv nachvollziehbar waren – zu bagatellisieren oder so umzudeuten, dass jeweils das Opfer Anlassgeber für die späteren Handlungen war.

Dass er jede seiner Kind-/Erwachsenenbeziehung sexualisiert hat, ausnahmslos alle Übergriffe mittels Schuld- und Verantwortungszuweisung an seine Opfer zu neutralisieren versucht, jegliche Gewalt in Abrede stellt und letztendlich darauf abstellt, den Wünschen der Jungen entsprochen zu haben sowie deren Mitwirkung hervorhebt, zeigt deutlich seinen Unwillen, sich sachgerecht und selbstkritisch mit seinen Taten aus-einander zu setzen.

Exemplarische Tatsituationen
Beispielhaft für viele vergleichbare Sachverhalte seien nachfolgend zwei Episoden herausgegriffen:
Silvio P. war 7 Jahre alt, als Tim in sein Leben trat. Seine Mutter hatte ihn, damals in einer Gaststätte arbeitend, dort kennen gelernt. Es entstand ein freundschaftliches Verhältnis und mit Einverständnis der allein erziehenden Mutter kümmerte sich der spätere Angeklagte liebevoll um ihren Sohn, der regelmäßig auch bei ihm übernachten durfte. Obwohl die Mutter etwa zur gleichen Zeit Strafanzeige gegen einen anderen ihrer Bekannten wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs an Silvio erstattet hatte, war sie, was Tim anbelangte, ohne Argwohn. Vielmehr zeigte sie sich erfreut über sein Engagement, mit dem Jungen Unternehmungen zu machen.
Da Tim von Silvio selbst bestätigt bekam, dass er zuvor tatsächlich durch den Bekannten der Mutter missbraucht worden war, blieb der Rest reine „Formsache“. Der Weg zur Duldung bzw. Vornahme weiterer intensiver sexueller Handlungen war vorbestimmt. Nicht nur, dass Tim diese durchführte oder an sich vornehmen ließ, darüber hinaus hatte der Missbraucher Silvio schnell derart manipuliert, dass dieser auch entsprechende Handlungen an sich durch weitere Jugendliche bzw. Heranwachsende im Beisein von Tim erduldete oder wunschgemäß bei anderen ausführte. Es kam dann u.a. zu einer Situation, wo der Angeklagte in der Wohnung der P. übernachtete. Während die Mutter im Nebenzimmer schlief, vollzog Tim an Silvio in dessen Zimmer den Analverkehr, indem er das Kind auf den Tisch legte und mit dem Penis in dessen Anus eindrang. Anschließend ließ sich der Täter oral befriedigen und ejakulierte in den Mund des Jungen.
Nach Angaben des Geschädigten wurde er von seinem 7. bis 12. Lebensjahr derart misshandelt. Er habe regelmäßig alle 14 Tage bis drei Wochen, manchmal auch jede Woche bei Tim übernachtet. Es gab kein Treffen ohne Missbrauch, wobei jedes Mal das „volle Programm“ ablief, einschließlich der zeitweiligen Anwesenheit/Beteiligung weiterer Kinder und/oder Erwachsener. Häufig seien dabei Film- und Fotoaufnahmen gemacht
worden.
Die zweite Detailschilderung betrifft Andreas, den Ende 1989 geborenen Sohn der Exfrau des Tim. Er ging aus einer Beziehung hervor, die dessen ehemalige Frau nach der Scheidung eingegangen war, jedoch nur relativ kurzen Bestand hatte. Etwa 1995, nachdem die Beziehung zwischen dem leiblichen Vater von Andreas und seiner Mutter gescheitert war, intensivierte sich der Kontakt zwischen dem Beschuldigten und seiner vormaligen Ehefrau wieder. Er sah seine leibliche Tochter sowie Andreas nun regelmäßig, unternahm Ausflüge mit ihnen und verbrachte gemeinsam mit seiner geschiedenen Frau und den Kindern Urlaub. Die nunmehr zunehmend engere Beziehung nutzte Tim in den Folgejahren dazu, bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine sexuellen Bedürfnisse durch Andreas befriedigen zu lassen. Da er für den Jungen die Vaterrolle einnahm und das grenzenlose Vertrauen der Exfrau genoss, waren die Voraussetzungen in Hinsicht der Tatgelegenheiten ideal für den Missbraucher.
Auch diesen Jungen führte er zugleich anderen Personen ebenso zum Zwecke der Vornahme/Duldung sexueller Handlungen in seiner Gegenwart zu, wie er Andreas bestimmte, sich an weiteren Opfern, u.a. dem die Ermittlungen auslösenden 3 ½ jährigen Robert, zu vergehen. Diverse Male wurde Andreas, der zumindest in einem Falle durch Tim einem weiteren Sexualtäter mit den Worten „das ist mein Sohn“ (damals übrigens neunjährig) vorgestellt wurde, durch seinen Nennvater und andere massivst missbraucht. Neben „Hilfestellungen“ beim Eindringen in den Körper eines Kindes widmete sich der Haupttäter der Fertigung von Film- und Fotodokumenten, jedoch nicht, ohne selbst in jeder Hinsicht Hand und sonstiges an den Jungen zu legen.
Sogar in der Wohnung der Mutter des Andreas und schließlich auch im Zimmer der Tochter erfolgten zusammen mit einem weiteren Täter extremste Sexualhandlungen an und mit Andreas. Auch hierbei filmte der Angeklagte, u.a. eine Szene, in der der Bekannte des Tim im Zuge des Oralverkehrs in den Mund des Kindes ejakuliert. Bei einer gleichen Handlung am Tag darauf, durchgeführt von dem Haupttäter an dem Sohn seiner Exfrau, erschien plötzlich der Großvater in der Tür, um sich nach der Mutter von Andreas zu erkundigen. Die Handlung wurde, ohne dass der Großvater etwas bemerkt hatte, kurz unterbrochen und fortgesetzt, nachdem die Störung vorüber war… bis der Beschuldigte in das Gesicht des Kindes ejakulierte.

Bemerkenswert
Es ist schon höchst erstaunlich, dass im vorliegenden Falle…
• die Mutter des Andreas nicht nur jeden Missbrauchsverdacht in Richtung ihres geschiedenen Ehemanns für irreal hielt, ihn als liebevollen und verantwortungsbewussten Mann schilderte, der doch auch Familien betreue, die ihm über behördliche Stellen vermittelt wurden, sondern sogar mutmaßte, dass das vorliegende Belastungsmaterial auch manipuliert sein könnte…
• die Staatsanwaltschaft kein gesteigertes Interesse erkennen ließ, die aufgefundenen Videos mit den Tatdokumentationen persönlich zu begutachten und das erkennende Gericht das Bildmaterial in der Hauptverhandlung erst auf Antrag der Nebenklage sichtete…
• alle Taten aus DDR-Zeiten von der Rechtslage/ Rechtssicherheit her eher „unklar“ blieben …
• der Besitz erheblicher Mengen Kinderpornografie bei der Beurteilung der Täterdisposition des Tatgeschehens keine Rolle spielte…
• auch hier wieder einmal das „umfassende“ Geständnis, das in Wirklichkeit über eine fragmentarische Dimension nicht hinausging, positiv berücksichtigt wurde…
• Strafminderung gewährt wurde, weil der Angeklagte nicht vorbestraft ist (wie auch, als Justizvollzugsbeamter!)…
• einige Prozessbeteiligte – und zwar unterschiedlichster Interessenvertretungen – kritisierten, dass die Vernehmung des Beschuldigten von weiblichen Ermittlungspersonen durchgeführt worden sei…
• immerhin auf ein erhebliches Strafmaß erkannt wurde, das – meines Wissens – in bislang keinem vergleichbaren Fall erreicht wurde.

Sind derartige Taten zu verhindern?
Ganz klare Antwort: In den meisten Fällen durchaus! Es ist zwar müßig, überforderten Eltern oder allein Erziehenden zu empfehlen, sich intensiver um ihre Kinder zu kümmern und ihnen das zukommen zu lassen, was wirklich fehlt. Dieser Ansatz dürfte zum Scheitern verurteilt sein.
Raten kann und muss man aber, wenigstens die Zeit aufzubringen, mit den Kindern darüber zu reden, wo, mit wem und wie sie ihre Freizeit verbringen.
Eine gesunde Portion Vorsicht und Argwohn dürfte helfen, Unheil zu vermeiden.
Das Vertrauen des Kindes, dass es wirklich alles erzählen darf, ohne sofort Sanktionen erwarten zu müssen und dass man ihm auch glaubt, sind weitere Grundvoraussetzungen.

Fazit:
Eigentlich ist es unvorstellbar, dass ein Täter zusammen mit weiteren Personen in der hier bekannt gewordenen massiven Weise über Jahre hinweg Kinder sexuell ausbeutet, ohne dass auch nur ein einziges Opfer Hilfe gesucht oder sich offenbart hätte. Das zeigt wohl deutlich genug, wie raffiniert und perfide die Täter vorgehen, wie problematisch die Thematik, wie schwierig die Ermittlungsarbeit und wie hoch das Dunkelfeld ist.

Der Täter büßt voraussichtlich (höchs-tens) 10 Jahre, die Opfer aber leiden vermutlich Zeit ihres Lebens unter den Geschehnissen.