Die Scharia

als islamische Rechts- und Normenordnung

Dr. Marwan Abou-Taam,
Mainz

Wörtlich übersetzt bedeutet das arabische Wort Scharia „der Weg zur Tränke„ oder „der klare Weg„. Sure 5, Vers 48 des Qurans spricht von der Scharia als dem Weg, der für jeden Muslim bestimmt ist. Von den 6200 Versen des Qurans haben etwa 550 einen normativen Charakter, die größtenteils kultische Vorschriften für das Gebet, das Fasten und die Pilgerfahrt enthalten. Davon beschäftigen sich etwa 80 Verse mit strafrechtlichen Normen sowie mit Fragen des Erbrechts oder anderen familienrechtlichen Fragen. Damit enthält der Quran viel weniger Rechtsnormen als die Schriften des Judentums und des Christentums.

Nach dem Tode des Propheten und durch die schnelle Ausbreitung des Islams entstand ein Regelungsdruck, so dass rechtliche Normen für die Organisation des Gemeinwesens unabdingbar wurden. Unter diesen Voraussetzungen entwickelte sich der Begriff Scharia vom 7. bis zum 11. Jahrhundert zum juristischen Oberbegriff. Die Scharia regelt gleichermaßen das Verhalten der Menschen in gesellschaftlichen Fragen wie auch in Bezug auf rituelle Praktiken sowie den Rahmen der Gottesverehrung.
Die islamischen Gelehrten haben den Anspruch, aus dem geoffenbarten Text den Willen Gottes als Gesetz abzuleiten. Obwohl sich daraus ein Generalanspruch der Scharia ableitet, alle Lebensbereiche eines Menschen regeln zu wollen, handelt es sich dabei nicht um ein kodifiziertes Gesetzbuch. Die Scharia ist zu keiner Zeit und an keinem Ort je vollständig zur Anwendung gekommen, wird jedoch als idealtypisches Gesetz seitens der Gelehrtenschaft gehandelt.


Die islamische Rechts- und Normenordnung basiert auf der Auslegung des Koran (Foto: Hofem; mit freundlicher Genehmigung des C.H.Beck-Verlages; Bild aus „Der Islam. Kunst und Architektur, hg. V. Markus Hattstein und Peter Delius, Köln 2000

Sie ist gleichzeitig konkret wie interpretierbar. In manchen Fällen und bei manchen Gelehrten wirkt sie erstarrt, bei anderen flexibel. Dies lässt sich auf die Auslegungspraxis des göttlichen Rechts zurückführen, die vom auslegenden Gelehrten und den jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen, in denen dieser wirkt, abhängt.
Damit basiert die islamische Rechts- und Normenordnung/ Schari‘a auf der Auslegung des Quran. Die erste Stufe der Quranauslegung war die philologische Herstellung des Textes. Eine erste Kommentierung des Qurans fand im 9. Jahrhundert statt. Der bekannte Historiker At-Tabari verfasste ein 30 Bände umfassendes Werk. Weiterhin beschäftigten sich die Muslime schon sehr früh mit der Tradition/Hadith und Lebensweise des Propheten.
Im Quran sind viele Bereiche des Alltags gar nicht oder nur andeutungsweise vorhanden. Schon die Gefährten des Propheten suchten nach seinem Tod diese Lücke zu schließen, in dem sie sich an den Worten und Handlungen des Propheten orientierten, so dass die Tradition des Propheten/Sunna nach dem Koran zur zweitwichtigsten Quelle im Islam avanciert ist. Die Worte des Propheten und seine Handlungsweisen wurden gesammelt und durch die Generationen weitergegeben. Die theologische Grundlage hierfür lässt sich in vielen quranischen Zitaten feststellen. So fordert der Vers 3:32 die Muslime auf: „Gehorcht Allah und dem Gesandten„.
Nach sunnitischer Auffassung existieren sechs legitime Hadith-Sammlungen, die vom siebten bis zum zehnten Jahrhundert kanonisiert wurden. Die schiitische Tradition erkennt dagegen nur die Überlieferungen Alis und seiner direkten Nachkommenschaft als legitim an. Die Hadithe spiegeln oft die Lehren der jeweiligen Strömung innerhalb des Islams wider, die sie vertritt, so dass jede Richtung Hadithe verbreitet, die ihre Tendenzen stützen.

Die Hadithwissenschaft

Die erste autoritative Sammlung vertrauenswürdiger Hadithe wurde um 850 n.Chr. von Bukhari zusammengestellt. Damit wurde der Grundstein für die Hadithwissenschaft gelegt. Jedes Hadith muss demnach aus seinem Inhalt und dem Isnad bestehen. Dabei handelt es sich um eine Überliefererkette, die beim Propheten oder einem seiner Gefährten enden muss. Ferner wird überprüft, ob die Personen, die einen Hadith überliefern, vertrauenswürdig waren und überhaupt in die Überliefererkette hineinpassen. Entsprechend werden Hadithe in mehrere Kategorien unterteilt:

  • Sahih/authentische: Die Übermittler des Hadith sind vertrauenswürdig und die Kette der Überlieferer reicht ununterbrochene bis zum Propheten oder einen seiner Gefährten.
  • Hasan/nicht einwandfrei zuverlässig: Die Überlieferer-Kette ist nicht einwandfrei.
  • da´if/schwache: es bestehen Bedenken gegen deren Echtheit.

Zusätzlich wurde aus der Überlieferung, in der Mohammed sagte: „Meine Gemeinde wird nie in einem Irrtum übereinstimmen„, das Prinzip des Konsensus (Igma´) entwickelt. Damit ist neben dem Quran und der Tradition die Übereinstimmung die dritte Quelle der Rechtsfindung.
Wird eine Rechtsfrage weder im Quran noch in den Hadithen erwähnt, so habe sich die islamische Gemeinde über eine Lösung zu einigen. Diese kollektive Willensbildung wird heute von den Rechtsgelehrten wahrgenommen, was nicht ganz unproblematisch ist. Denn dadurch wird die Konservierung von Meinungen der Gelehrtenschaft betrieben, die ihre gesellschaftliche Machtposition dadurch festigen.
So stellt Annemarie Schimmel fest, dass der Igma´, der die Möglichkeit zu neuen Entwicklungen und zur Aufnahme neuer Sitten bot, in der Anfangsphase eher schöpferisch gewesen sei; er erstarrte jedoch im 10 Jahrhundert und wurde, statt dem Fortschritt zu dienen, zu einem Hemmschuh. Es setzte sich im sunnitischen Islam die Lehre durch, dass eine auf der Basis von Igma´ entschiedene Angelegenheit für alle Zeiten Gültigkeit hat.

Die Weiterentwicklung der Scharia

In vielen Fällen gaben weder die Qurantexte noch die Hadithe Antworten auf Fragen der Muslime. So baute man ein System von Analogieschlüssen und Spekulation (Qiyas) auf, das zur Entstehung verschiedener Rechtsschulen im sunnitischen Islam führte. Qiyas ist die systematischen Anwendung der Logik auf Situationen, die im Quran oder in den Hadithen nicht explizit erwähnt werden.
Als eine zentrale Grundlage der Rechtsfindung besteht diese Methode darin, dass aus einer bestehenden Quelle im Quran oder in den Hadithen durch den Vergleich ein Schluss gezogen wird. In der Praxis werden Rechtsfragen miteinander verglichen, um eine Rechtsnorm für eine im Quran und in den Aussagen des Propheten nicht geregelten Sachlage von einer ähnlichen, aber geregelten Rechtsfrage abzuleiten. Sie wird von allen sunnitischen Rechtsschulen angewandt. Schiitische Rechtsschulen lehnen die Qiyas als Rechtsquelle ab und ersetzen sie durch ´aql/Vernunft.


Nur etwa 80 Verse des Koran beschäftigen sich mit strafrechtlichen Normen sowie mit Fragen des Erb- oder Familienrechtes Foto: Hofem

Der Ijtihad als eine Form der Anstrengung, um das Gesetz Gottes zu ergründen, wurde in den sunnitischen Schulen aufgehoben. Es setzte sich die Doktrin durch, dass das Tor des Ijtihads spätestens im 3. islamischen Jahrhundert hätte geschlossen werden müssen. Damit sprach man den Gelehrten das Recht der freien Forschung im Quran und der Tradition zum Zweck der Rechtsfindung ab, was die Konservierung mittelalterlicher Bräuche und Sitten in den muslimischen Gesellschaften erklärt. Derzeit sprechen sich viele Gelehrte für die Aufhebung dieser Doktrin aus.
Im schiitische Islam ist das Tor des Ijtihads offen geblieben. Rechtsexperten/Ulama sind bemüht, mit Hilfe des Ijtihads herauszufinden, welche Implikationen Gottes Gebote in bestimmten Einzelfällen zukommen. Der schiitische Islam kennt individuelle Interpreten des Gesetzes, die von den Menschen als Quelle der Nachahmung angesehen werden. Sie finanzieren sich von einer Sondersteuer (al Khums).

Menschliche Handlungen und religiöse Kategorisierung

Aufbauend auf den oben genannten Kriterien hat sich eine islamische Wissenschaft/Fiqh entwickelt, die sich mit der Scharia beschäftigt. Der Fiqh setzt sich sowohl mit den religiösen Pflichten der Muslime als auch mit juristischen und politischen Aspekten auseinander.
Es wurden Kategorien entwickelt, die es erlauben, sämtliches menschliches Handeln im Hinblick auf seinen ethischen und religiösen Gehalt hin zu beurteilen. Gegenstand der Beurteilung ist dabei sowohl das Handeln des Menschen in der Welt, als auch dasjenige in Bezug auf Gott. Jedes Tun und Lassen findet seine Bewertung zwischen den Polen der Verpflichtung und des Verbotes. Das islamische Recht unterteilt die menschlichen Handlungen in fünf solche Kategorien:

  • Fard/wagib (Obligatorisch) bezeichnet eine Pflicht. Sie zu erfüllen, wird belohnt und ihre Unterlassung zieht Strafe nach sich.
  • Mandub bezeichnet eine Empfehlung. Während die Tat belohnt wird, bedeutet ihre Unterlassung jedoch keine Strafe.
  • Mubah charakterisiert eine sittlich neutrale Handlung. Weder wird ihr Vollbringen belohnt, noch ihre Unterlassung bestraft.
  • Makruh ist eine Tat dann, wenn ihre Unterlassung belohnt, ihr Vollzug aber nicht bestraft wird.
  • Haram bezeichnet ein klares Verbot. Die Unterlassung wird belohnt, während der Vollzug bestraft wird.

Lohn und Strafe beziehen sich dabei auch auf außerweltliche Kategorien, denn nicht alles, was haram ist, wird vom Richter mit Strafe belegt insbesondere dann nicht, wenn ein Verstoß die Rechte Gottes und nicht diejenigen eines anderen Menschen verletzt. Da nach islamischer Überzeugung nur Gott das souveräne Urteil über alles menschliche Handeln besitzt, streben die Gelehrten die Annäherung an den offenbarten göttlichen Willen an.
Die islamische Orthodoxie kennt große und kleine Sünden. Aus dem Quran wird jedoch nicht deutlich, was man als große und was man als kleine Sünden betrachten kann. Allerdings gilt seit Ghazzali (1059-1111 n.Chr.), dass am schwersten die Sünden gegen Gott und gegen den Glauben sind; dann folgen die Sünden, die sich gegen das Leben des Menschen und schließlich diejenigen, die sich gegen die Mittel, die das Leben ermöglichen, richten. Der Quran berichtet davon, dass die Taten der Menschen auf eine ungeheure Wage gelegt werden.
Dabei wird stets von der Barmherzigkeit Gottes und von seiner Bereitschaft, alle Sünden der Menschen zu vergeben, berichtet. Bedingung für die Erlangung der göttlichen Vergebung ist in erster Linie der Glaube. Beim Gericht werden jedoch Unterschiede gemacht, so dass mit einigen scharf abgerechnet wird, anderen wird Mitleid gezeigt, einige treten ohne Abrechnung ins Paradies. Alle Bekenner von Gottes Einheit kommen, nachdem sie für ihre Taten gebüßt haben, schließlich ins Paradies. Muslime glauben, dass Propheten und andere gute Menschen für sie Fürsprache bei Gott einlegen können.

Rechtsbereiche der Scharia

Neben den religiös-ethischen Grundfragen des Islams beschäftigt sich die Scharia mit juristischen Problembereichen. So werden von den Rechtsgelehrten grundsätzlich drei Rechtsbereiche bearbeitet:

1. Eherecht
2. Familienrecht
3. Strafrecht: Es werden vier Arten von Strafen unterschieden

Im Bereich Ehe-, Familien- und auch im Strafrecht enthalten Koran und Überlieferung eine Reihe von Anweisungen, die von den Gelehrten in umfangreichen Kommentaren systematisiert wurden. Das zentralste Element der Scharia sind heute das das Ehe- und Familienrecht.
Als Kern der islamischen Rechtssprechung prägen sie mit wenigen Ausnahmen das Personenstandrechts vieler Länder der islamischen Welt. Sie stellen eine wesentliche und in manchen Fällen die einzige Grundlage der Rechtsprechung in Zivilprozessen dar. Durchgehend säkulares Recht auch in Zivilprozessen hat einzig die Türkei. Die Türken schafften im Zuge der Gründung einer Laizistischen Republik 1926 die Scharia als Gesetzesgrundlage ab und orientierten sich in Fragen der Ehe- und Familiengesetzgebung am Schweizerischen Zivilgesetzbuch.
Kernkonflikte zwischen islamischer Regelungen und westlichen Rechtstraditionen lassen sich in den Bereichen der Gleichberechtigung von Mann und Frau entdecken. Hierbei lassen sich viele Benachteiligungen von Frauen in islamischen Gesellschaften mehr auf kulturelle-patriarchalische Traditionen als auf religiöse Normen zurückführen.
Jedoch existieren auch einige islamische Regelungen, die den innerislamischen Geschlechterkonflikt anheizen. So bekommt ein männlicher Erbe den doppelten Anteil eines weiblichen im gleichen Verwandtschaftsgrad. Fragen des Kopftuches, der Polygamie, sowie der gesellschaftlichen Rolle der Frau nehmen weiterhin einen wichtigen Platz im Diskurs um die Gleichberechtigung ein.
Das größte Konfliktpotenzial im Bezug auf westliche Menschenrechtsvorstellungen ergibt sich aus den strafrechtlichen Normen der Scharia. Dabei basiert das islamische Strafrecht auf einer Dreiteilung in Grenz-, Ermessens- und Wiedervergeltungsvergehen. Der Quran selbst nennt sehr wenige Verfehlungen, die mit einer Strafe sanktioniert werden. Diese sogenannten hadd-vergehen/Grenzvergehen sind laut Orthodoxie Kapitalverbrechen, denn sie verletzen das göttliche Recht. Solche Vergehen müssen gerichtlich geahndet werden. Zu den Grenz- bzw. Kapitalverbrechen gehören:

  • Ehebruch und Unzucht (arab. zina‘)
  • Die Verleumdung wegen Unzucht (arab. qadhf)
  • Schwerer Diebstahl (arab. sariqa)
  • Schwerer Straßen- und Raubmord (arab. qat‘ at-tariq)

Die islamischen Rechtsgelehrten haben viele Möglichkeiten entwickelt, um harte Schariastrafen abzumildern oder zu umgehen. So müssen im Falle von Ehebruch vier Zeugen herangezogen werden, die die Penetration gesehen haben.
Sollte ein Mann, der seiner Frau den Vorwurf des Ehebruches macht, ohne die entsprechenden Zeugen zu haben, einen Eid ablegen, so kann seine Ehefrau ein Gegeneid schwören, was zu Folge hat, dass der Mann wegen Verleumdung bestraft wird. Auch hinsichtlich des Diebstahls, der mit der Körperstrafe Amputation der rechten Hand bestraft wird, haben die Rechtsgelehrten Bedingungen ausgearbeitet, die einen Diebstahl nur unter gewissen Umständen als echten Diebstahl gelten lassen.
Qisasvergehen/Verbrechen mit Wiedervergeltung sind gemäß Scharia Handlungen, die gegen Leib und Leben gerichtet sind. Hierbei wird die Schuldfähigkeit vorausgesetzt. Qisasvergehen erfordern die Zufügung derselben Verletzung. Wenn ein Mensch vorsätzlich getötet wurde, kann die Familie des Getöteten die Tötung des Schuldigen verlangen, was unter Aufsicht des Richters geschieht. Allerdings kann die Familie des Opfers auf die Tötung des Schuldigen verzichten und stattdessen die Zahlung eines Blutpreises (arab. diya) einfordern.
Alle anderen Vergehen werden im Ermessen des Richters bestraft. Allerdings ist die Berechtigung der Verhängung der Todesstrafe unter den Rechtsgelehrten strittig, denn einige Theologen sind der Auffassung, dass eine Ermessensstrafe nie den Umfang einer Kapitalstrafe erreichen dürfe. Auch hier hat sich im Laufe der islamischen Geschichte die Empfehlung durchgesetzt, Barmherzigkeit walten zu lassen. Dennoch werden in einigen islamischen Ländern im Namen der Scharia Prozesse durchgeführt, bei denen besonders harte Strafen verhängt werden. In diesen Fällen geht es jedoch weniger darum, dem Recht zur Anwendung zu verhelfen, sondern mehr um die Demonstration von Macht.