Islamismus – Die Herausforderungen einer Weltanschauung

Von Dr. Marwan Abou-Taam

Der gemeinsame Nenner aller islamistischen1 Bewegungen ist in erster Linie der Bezug zu den Lehren des Islam. Sie bekennen sich, ohne Ausnahme, zu den Lehren des Islam und beanspruchen für sich, die einzig wahre Interpretation zu besitzen. Der Islam verbindet also diese Bewegungen und gleichzeitig grenzt er sie von anderen politischen Bewegungen innerhalb und außerhalb der islamischen Zivilisation ab. Die eben erwähnte Verbindung ist in erster Linie lediglich eine theoretisch-konzeptionelle.

In vielen Ländern der islamischen Zivilisation existiert eine Vielfalt von sich auf dem Islam begründenden Bewegungen, die ihrerseits selbst zutiefst verfeindet sind und sich gegenseitig der Apostasie bezichtigen und entsprechend bekämpfen.2 Dennoch soll verallgemeinernd vom Islamismus gesprochen werden, denn die ideologische Grundlage aller islamistischen Bewegung ist dieselbe. Die Islamisten formulieren ihr Anliegen stets mit religiösen Traditionen und Texten, dadurch entsteht eine Verbindungslinie, die islamistische Bewegungen in der gesamte Welt des Islam aufweisen, die es möglich macht, allgemein gültige Aussagen bezüglich der grundsätzlichen Ideologie aller islamistischen Bewegungen zu machen. Geleitet werden sie von einer Weltanschauung, die die Überzeugung impliziert, dass der Islam eine absolut gültige Wahrheit darstellt, die durch Gottes Wort im Quran offenbart und dokumentiert wurde. Eine Annahme, die alle monotheistischen Religionen bezüglich ihrer jeweiligen Glaubensinhalte gemeinsam haben, wenn da nicht wäre, dass durch die Politisierung dieser Überzeugungen, ein Herrschaftskonzept aufgestellt wird, das den Islam als al-hall al-Islami/die islamische Lösung3 für alle sozialen, wirtschaftlichen und organisatorischen Bereiche der Umma/ islamischen Gemeinde sieht.
In diesem Zusammenhang betont Tibi nicht nur den Unterschied zwischen dem Islam als Religion und dem Islamismus als der politisierten Form des Islam und fasst zusammen:
„Kultursoziologisch ist der fundamentalistische islamische Revivalismus Ausdruck einer defensivkulturellen Reaktion auf die Herausforderungen der westlichen Moderne. Ideologisch artikuliert sich diese Defensivkultur aggressiv; dabei will sie nicht nur defensiv gegen die westliche Penetration vorgehen, sondern durch einen militärischen Sieg über die erklärten westlichen Feinde offensiv werden, auch wenn dies unter den gegenwärtigen Bedingungen nur Wunschdenken bleibt. Mit anderen Worten: Es geht nicht um die Aneignung der Moderne, mit dem Ziel, die Kluft zwischen Orient und Okzident zu schließen, sondern primär darum, die gesamte Welt nach dem eigenen universalistischen Design islamisch zu gestalten. Es ist dabei niemals die Rede von kulturellem Relativismus, geschweige denn von gleichberechtigter Pluralität der Kulturen nach dem Prinzip der Vielfalt. Der Fundamentalismus ist deshalb nicht nur der Traum von einer „halben Moderne“, sondern auch der Traum von einer islamischen Weltherrschaft.“4
Der religiös motivierte politische Extremismus ist daher ein immanenter Reaktionsmechanismus auf die konstitutiven Krisen der betroffenen Gesellschaften. Er ist eine totalitäre Ideologie, die aus einer „Auseinandersetzung mit der der Moderne entsprungenen Sinnkrise“ hervorgegangen ist und „von der Moderne beeinflusst und zugleich gegen sie gerichtet ist.“5
Das Konzept regelt das Verhältnis der Menschen untereinander und macht Vorschriften bezüglich aller den Alltag betreffenden Gegebenheiten. Es definiert die Beziehung der Gläubigen zu den Ungläubigen sowohl im Staat als auch nach außen und liefert die Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Herrschaft. Hierin sind zwei zentrale Charakteristika islamistischer Bewegungen wiederzufinden, die in allen Organisationen vertreten werden: die universalistisch-totalitäre Eigenschaft bestimmt erstens alle Bereiche der Gesellschaft inklusive der Aufhebung der Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Und zweitens die Ablehnung des Nationalstaats als Ordnungseinheit innerhalb des internationalen Systems zu Gunsten des Umma-Begriffes, der keine nationalstaatliche Grenzen anerkennt und den Staatsbürgerbegriff negiert. Nach islamischer Überzeugung verbindet das Zugehörigkeitsgefühl zur khair Umma/ besten Gemeinschaft (Quran 3/110) alle Muslime trotz aller Differenzen. Daraus leitet der politische Islam ab, dass alles Handeln und Streben eines Muslims sich zu jeder Zeit am Wohl der Gemeinschaft orientieren muss, denn alle Vorschriften für das individuelle Verhalten sind als Pflichten gegenüber Gott und der Umma zu verstehen. Damit steht die Gemeinschaft uneingeschränkt im Mittelpunkt des Interesses, das Individuum hat sich dem Gemeinwohl unterzuordnen.
Die universelle Geltung des Islam ist kein Produkt dieser relativ jungen Erscheinung des politischen Islam. Ähnlich wie das Christentum erhebt der Islam einen Universalitätsanspruch. Es ist eine Forderung, die der Vorstellung entspringt, dass der einzige Gott seine Lehre für die gesamte Menschheit als einen Weg zur Erlösung offenbart hat. Da alle Menschen Gottesgeschöpfe sind, gilt es, sie davon zu unterrichten und ihnen damit die Möglichkeit der Erlösung zu bieten. Ein weiterer Aspekt wird durch Tauhid/ Einheit Gottes impliziert. Tauhid ist ein theologischer Begriff, der Gott als den absolut Einen beschreibt, und wird von westlichen Religionswissenschaftlern als Beweis für den islamischen Radikalmonotheismus angesehen: neben Gott soll der Mensch keine weiteren Gottheiten verehren.6 Damit wird eine Absolutheit beansprucht, die im Prinzip alle drei großen monotheistischen Religionen teilen, was u.a. die Basis gegenseitiger Konkurrenz untermauert. Der Islamismus politisiert diesen Anspruch und besteht darauf, den interpretierten Befehl Gottes, die Welt zu islamisieren, durchzusetzen. Weltunordnung als eine Zelebration des Unvermögens des politischen Islam ist die Folge. Seine Ideologie einer sakralen Herausforderung basiert auf drei zentrale Prinzipien, die bereits vom Mentor und Chefideologen des politischen Islam, Sayyid Qutb, in aller Deutlichkeit definiert worden sind7:

  • Rückfall der Menschheit in das Zeitalter der Djahiliya8
  • Die Einführung der Gottesherrschaft/ Hakimiyat Allah
  • Die islamische Weltrevolution/ At-thaura al ´alamiya9


Bei näherer Untersuchung islamistischer Bewegungen kann man vier zentrale Leitlinien feststellen, die die angesprochene Verbindung manifestieren: Die Universalität des Islam in seiner politischen Form, der Djahiliya-Zustand der Menschheit, der Djihad als eine verbindliche Verpflichtung aller Gläubige und schließlich die Schaffung eines Friedenszustandes im Sinne der Integration aller Menschen in das Haus des Islam, was im Prinzip die Islamisierung der Welt bedeutet.10
Während die Universalität des Islam eine Wahrheit darstellt, die mit aller Anstrengung erreicht werden soll, ist der Djahiliya-Zustand, einer, der mit aller Anstrengung bekämpft und aufgehoben werden muss. Daraus wird deutlich, dass der Djihad die logische Konsequenz beschreibt, wie man seine Ziele erreicht. Also ist der Djihad ein Mittel zur Erreichung des utopischen Zustandes vom islamischen Frieden. Dabei muss man bedenken, dass in der Denkstruktur von Islamisten die Universalität des Islam und die Djahiliya Gegensätze sind, die nicht gleichzeitig existieren können.11

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