„... denn neun sind nicht genug“:

der neue alte Rechtsterrorismus

„Alidrecksau wir hassen dich„

„Dabei hätte man es durchaus besser wissen können„

Dr. Dr. (rus) Michail Logvinov

Dass eine klandestine, militante und abgeschottete Zelle sich in deutschen rechtsextremistischen Milieus herausbilden könnte, galt bis zum Bekanntwerden der terroristischen Umtriebe des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) anscheinend als unmöglich. Umso größer war die öffentliche Bestürzung über die Morde an den türkischen und griechischen Kleinunternehmern sowie den Mordanschlag auf zwei Polizisten, die Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zwischen 2000 und 2007 geplant, organisiert und/oder begangen haben. Außerdem war das Zwickauer Trio für Sprengstoffanschläge in den Jahren 2001 und 2004 und etliche Banküberfälle verantwortlich.

Die Politik zeigte sich „beschämt, dass nach den ungeheuren Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes rechtsextremistische Ideologie in unserem Land eine blutige Spur unvorstellbarer Mordtaten hervorbringt„; von allen Seiten hagelte es Kritik an den Verfassungsschutz- und Kriminalämtern, die es nicht vermocht haben, eine rechtsextremistische Motivation der Täter festzustellen und die Zelle zu identifizieren.1 Die Fassungslosigkeit, mit der Politik und Öffentlichkeit auf die bekannt gewordenen Details der Mord- und Anschlagsserie reagierten, führte deutlich vor Augen: „Dem Rechtsextremismus wurde nicht zugetraut, dass sich eine offenbar kleine kriminelle Gruppe wie in Zwickau [...] so abkapselt und derartige terroristische Strafen begehen konnte„, so der Extremismusforscher Prof. Dr. Eckhard Jesse. Das Werk dieser kleinen kriminellen Gruppe erwies sich in der Tat als geplantes und gezieltes Ergebnis eines Netzwerkes aus Sympathisanten, Mitwissern und Unterstützern mit Verflechtungen in die NPD. Somit wirft beinahe jede neue Erkenntnis über den NSU-Fall neue Fragen auf und sorgt für neue Überraschungen.



Die NSU-Zelle

Dabei sind der aggressive, gewaltorientierte Rechtsextremismus wie der Rechtsterrorismus in Deutschland keine wirklich neuen Phänomene. Seit 1990 hat das Bundesinnenministerium zehn rechtsextremistische Organisationen verboten2 und der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz musste in einer Rede daran erinnern, dass im Verfassungsschutzbericht 2005 „über zwei Seiten zum Rechtsterrorismus berichtet [wird]„.3 Die Ursache, warum die Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes untergetaucht sind, war ebenfalls selbstredend: In der Jenaer Garage von bereits damals einschlägig bekannten Rechtsextremisten Mundlos und Böhnhardt hat die Polizei vier funktionsfähige Rohrbomben und 1,4 Kilo Sprengstoff sichergestellt. Die Fehlersuche muss daher vor dem Hintergrund der allgemeinen Verblüffung in die 1990er Jahre zurückreichen. Denn nach der Wiedervereinigung entstand das erste Glied in der Kette von Fehleinschätzungen, die dazu führte, dass die Sicherheitsbehörden „die jetzt bekannt gewordenen Täter nicht wirklich verstanden„.4
Bernd Wagner weist auf einen wichtigen Faktor hin: „Man wollte sich im wiedervereinigten Deutschland nicht eingestehen, dass sich militante rechtsterroristische Bewegungen etablieren. Ein großer Fehler war, dass man die sich schon in den 90ern massiv ausbreitende rechtsextreme Szene in den Bereich der Jugendprobleme verwiesen hat. Die ausländerfeindliche Stimmungslage der Bevölkerung wurde eher reduziert betrachtet. So entstand letztendlich ein Bild von sozial gestrauchelten Jugendlichen. Eine Verharmlosung.„5 Auch die Radikalisierungsforschung trug dazu bei, dass die Politik und Behörden den Rechtsextremismus mit der falschen Brille gesehen haben. Galt doch bis dato die rechts politisch motivierte Gewaltkriminalität als vergleichbar mit der übrigen gemeinen Kriminalität, die lediglich in jugendlichen Subkulturen blühte. Die Verabsolutisierung der „zwecklosen„, habitualisierten Gewalt in den radikalen subkulturellen Milieus verstellte teilweise den Blick auf ein zielgerichtetes Gewalthandeln im Rechtsextremismus. Dabei handelt es sich um zwei funktional verschränkte Dimensionen – eine Legitimation ausgeübter Gewalt durch rechtsextremistische Ideologeme und eine Durchsetzung der Ideologie durch Anwendung von Gewalt. Der Rechtsextremismus als soziale Bewegung, die in netzwerkartigen Strukturen organisiert ist und verschiedene Aktionsformen – von terroristischen Bestrebungen über Militanz bis hin zur kulturellen Subversion – verwendet, konnte daher nicht in seiner Gesamtheit erfasst werden. In der Folge gelang es „der Bewegung in vielen Teilen Deutschlands, eine rechtsradikale Lebensweise kulturell zu verankern. Das alles wurde von den Behörden leider nicht ernsthaft in den Blick genommen.„6 Die Folgen dieser Entwicklung beschreibt der GdP-Bundesvorsitzende, Bernhard Witthaut, wie folgt: „Jeder kann sie sehen: Neonazis, die in Gruppen in Dörfern herumhängen, in denen keine rechtsstaatliche Ordnungsmacht mehr präsent ist. Die durch Straßen in Städten marschieren und gegen die die Polizei machtlos ist, solange sie keine Straftaten begehen. Die Demonstrationsaufzüge gerichtlich durchsetzen und sich zu Versammlungen in geschlossenen Räumen ohnehin treffen dürfen.„7 Über die genannten allgemeinen Fehleinschätzungen hinaus lagen im Hinblick auf die NSU-Zelle weitere Erkenntnisdefizite bzw. Abweichungen von idealtypischen Fällen vor, auf die im Folgenden eingegangen wird.

War der NSU eine distinkte terroristische Organisation?

Waren die als „Döner-Morde„8 bekannt gewordenen Straftaten des NSU genuine terroristische Tathandlungen? Folgt man der weit verbreiteten Definition des Terrorismus als Kommunikationsstrategie, fällt die Antwort negativ aus. Denn die vom Zwickauer Trio auf die Fahnen geschriebene Propaganda der Tat („Taten statt Worte„) setzt in der Theorie voraus, dass der ideologische Hintergrund der Tat bekannt ist und als Kommunikat wahrgenommen und/oder als solches vermittelt wird. Die NSU-Zelle hat sich jedoch zu den Mordanschlägen nicht bekannt. Erst später, nach dem Mord an Polizistin Michèle Kiesewetter, hat man im Umfeld der Terrorzelle eine einschlägige DVD erstellt, weshalb Experten vermuten, dass das Trio etwas „Großes„ vorgehabt hätte und in dessen Folge die DVDs versenden wollte.9


Der Bekenner-Streifen „Panther Paulchen„

Die ausgebliebene Selbstbezichtigung hatte Folgen für die Ermittlungsarbeit der Behörden, denn im Fall eines Selbstbekenntnisses wäre die Zelle mit Gewissheit entdeckt worden. Das Argument soll allerdings nicht zur Rechtfertigung der Ermittlungspannen dienen. Denn bei einer Mordserie gegen Migranten ohne jegliche Verbindung und Ähnlichkeit außer ihrer nicht deutschen Abstammung, die zudem mit derselben Waffe begangen wurde, müsste ein Verdacht auf politisch motivierte Kriminalität aufgekommen sein, während die Aufgabe des Inlandsgeheimdienstes darin besteht, hochkonspirative Strukturen aufzudecken.
Eher gilt es zu hinterfragen, ob das gängige Terrorismusverständnis korrekturbedürftig ist. Denn die Kommunikation stellt im Terrorismus ein Mittel zum Zweck dar und unter gewissen Umständen, bspw. im Fall eines zu erwartenden hohen Ermittlungsdrucks, kann es zweckfremd sein, das konspirative Untergrundleben zu gefährden. Man kann daher nicht ausschließen, dass die Bekenner-DVD einen Vorführ- und womöglich Mobilisierungseffekt bezweckte. Aus dieser Perspektive erscheint als unwahrscheinlich, dass die Band „Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten„ über das Hintergrundwissen verfügte, das sie im Song „Döner-Killer„ aus dem Album „Adolf Hitler lebt!„ (2010) verarbeitete. Doch es mutet seltsam an, dass niemand in den Sicherheitsbehörden auf den Gedanken gekommen ist, bei den im rechten Spektrum besungenen und bejubelten „Döner-Morden„ könnte es einen politischen Hintergrund geben.


Die indizierte CD mit dem Song „Döner-Killer„, der nicht indiziert war und keinen Verdacht der Ermittler weckte.

Zugleich richtet sich die terroristische Kommunikationsstrategie nicht nur auf die negative, sondern auch auf die positive Bezugsgruppe, d. h. auf die Unterstützungsgemeinschaft. Daher ist nicht auszuschließen, dass die „Auserwählten„ aus dem braunen Sumpf Bescheid über die „Döner-Morde„ wussten. Die DVD offenbart überdies eine Schwäche der Macher für gereimte Worte. Hat womöglich jemand aus der Neonazi-Musikszene bei der Herstellung des Streifens mitgeholfen? Die Kommunikate an die negative Bezugsgruppe sind jedoch nicht ganz ausgeblieben. Ging doch das mordende Trio anscheinend davon aus, Angst und Schrecken unter den ins Visier genommenen Opfergruppen verbreitet zu haben.


„Neun mal hat er es jetzt schon getan. // Die SoKo Bosporus, sie schlägt Alarm. // Die Ermittler stehen unter Strom. //Eine blutige Spur und keiner stoppt das Phantom. [...] Am Dönerstand herrschen Angst und Schrecken. // Kommt er vorbei, müssen sie verrecken. // Kein Fingerabdruck, keine DNA. // Er kommt aus dem Nichts, doch plötzlich ist er da. […] Bei allen Kebabs herrschen Angst und Schrecken. // Der Döner bleibt im Halse stecken, // denn er kommt gerne spontan zu Besuch, // am Dönerstand, denn neun sind nicht genug„ (aus: „Döner-Killer„).

Hatte die Vorgehensweise des NSU keine historischen Präzedenzfälle?

Extremismusexperten heben hervor, dass die „geplante und gezielte Ermordung einzelner Menschen in Serie„ eine neue Qualität des Rechtsterrorismus darstelle.10 Auch Heinz Fromm behauptet übereinstimmend: „Die Ermordung von Menschen aus dem einzigen Grund, weil sie als „fremdländisch„ empfunden werden, passt in die Gedankenwelt der rassistischen Täter. […] Und wir konnten uns das als Bombenanschlag oder als Brandstiftung vorstellen, aber nicht als eine kaltblutige Exekution.„11 Kaltblütige Exekutionen gehören allerdings nicht erst seit dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie zur rechtsterroristischen Taktik. So hat das Mitglied der „Wehrsportgruppe Hoffman„ Uwe Behrendt im Dezember 1980 den jüdischen Verleger Shlomo Lewin und seine Frau mit einer Maschinenpistole kaltblütig ermordet. Auch in diesem Fall suchte die Polizei den Mörder monatelang unter Angehörigen der Gemeinde und nicht im rechten Spektrum. Der Rechtsextremist Kai Diesner verletzte im Februar 1997 in Berlin-Marzan einen Buchhändler und PDS-Mitglied Klaus Batruschat. Der Mord an ideologischen und anderen „Feinden„ ist somit in der rechten Szene nichts Neues, schließlich „sei man im Krieg mit dem System und da gingen nun mal einige Bullen oder sonstige Feinde drauf„.12 Ein rechts motivierter Serienmord ist in der Tat eine neue Entwicklung. Doch sie passt sogar besser zur terroristischen Vorgehensweise als Einzelmord.

Gibt es eine „Braune Armee Fraktion„ in Deutschland?


Der von einigen Medien bemühte Vergleich des NSU mit der RAF ist zwar nicht abwegig, dennoch scheint er den Blick auf die lange Historie und vor allem Transformation des deutschen Rechtsterrorismus zu verstellen.13 Zugleich war der Bezug zur RAF vom Zwickauer Trio zumindest intendiert, denn auf dem Bekenner-Video taucht das RAF-Logo auf und beide Gruppen hatten das gleiche „Wappentier„. Allerdings hat der schwarze Panther der Linksterroristen 41 Jahre später die Farbe gewechselt.14 Zwar unterscheiden sich beide Organisationen in ihrer Organisationsstruktur und Vorgehensweise, dennoch haben die Rechtsterroristen womöglich einige Tricks mit Blick auf das Leben im Untergrund bei der RAF abgeschaut. Nichtsdestotrotz hat der Rechtsterrorismus in Deutschland seine eigene Tradition.
Die Mitte der 1970er Jahre von Karl-Heinz Hoffmann aufgebaute „Wehrsportgruppe Hoffmann„ gilt als Keimzelle des deutschen Rechtsterrorismus. Der Bombenleger von München, Gundolf Köhler, der am 26. September 1980 durch eine Bombenexplosion 13 Menschen getötet und über 200 zum Teil schwer verletzt hat, entstammte dem rechtsextremistischen Studentenmilieu. Zeitweilig hatte er Kontakte zur „Wehrsportgruppe„ gepflegt und an Übungen teilgenommen, weshalb seine Alleintäterschaft fraglich ist. Der erwähnte Mörder Uwe Behrendt gehörte ebenfalls der „Wehrsportgruppe„ an. Auch die im Libanon ausgebildeten Rechtsterroristen Odfried Hepp und Walter Kexel, die zusammen mit Peter Naumann eine Befreiungsaktion des Kriegsverbrechers Rudolf Heß planten und mehrere Anschläge gegen die US-Soldaten und -Einrichtungen durchführten, gingen aus der gut organisierten Vereinigung hervor. Der Vergleich der RAF mit dem Vorgehen der Hepp-Kexel-Bande ist berechtigt, zumal sich die Gruppe am Vorbild der Linksterroristen orientierte.

Die „Deutschen Aktionsgruppen„ um Manfred Roeder, die zwischen Februar und August 1980 sieben Brand- und Sprengstoffanschläge verübt hatten und beim Brandanschlag im August auf eine Fluchtlingsunterkunft in Hamburg für den Tod von zwei Vietnamesen verantwortlich waren, verfolgten eine andere Taktik, auf die auch die späteren Rechtsterroristen zurückgriffen. Erwähnenswert ist, dass Roeders Mittäter bis dahin „unbescholtene Bürger [waren], denen niemand solche Taten zugetraut hätte: ein Handwerker (52), ein Hals-Nasen-Ohrenarzt (52) und eine Radiologieassistentin (26)„.15
Im Dezember 1998 wurden ein Sprengstoffanschlag auf das Grab des früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, und im Jahr 1999 auf die Wehrmachtausstellung in Saarbrücken verübt. Der Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf 2000, nach dem der damalige Bundeskanzler Schröder einen Aufstand der Anständigen forderte, hatte ebenfalls für das mediale Aufsehen gesorgt, das allerdings durch die spektakulären Anschläge des 11. September 2001 überboten wurde.
Zeichnete sich die rechtsextremistische Gewalt Anfang der 1990er Jahre durch spontane Brutalität aus, hat sich das rechte Spektrum Mitte der 1990er Jahre verstärkt organisiert. Es wandte systematische Gewalt an und wurde in Terrorvorbereitungen verwickelt, wie die Jenaer Szene exemplarisch vor Augen führt.16 Nichtsdestotrotz blieb das Profil eines jugendlichen Täters aus subkulturellen Milieus, der unsystematisch, meist unter Alkoholeinfluss vorgeht und Asylbewerber verunglimpft oder Ausländer, Linke und Homosexuelle belästigt und/oder verprügelt, stellvertretend für den rechtsextremistischen Gewalttäter-Typus. Bevor die rechtsextremistischen Parteien sich von der Gewalt aus taktischen Gründen distanziert haben, öffnete sich die NPD für gewalttätige Gruppen, so dass „die Mitgliedschaft der Partei zu bedeutenden Teilen aus dem gleichen neonazistischen Milieu wie die Rechtsterroristen stammt„ und in der Partei „einschlägige haßerfüllte Einstellungen und nicht nur latente Gewaltphantasien mit jeweils identischen Feindbildern„ kursieren.17 Im „Kampf um die Straße„ setzte die Mitte der 1990er Jahre radikalisierte NPD auf die Akteure, die von „nationalem Widerstand„, „einer Bewegung in Waffen„ respektive „führerlosem Widerstand„ schwärmten.18 Die Waffenfunde Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre, so bspw. im Fall der 2001 verbotenen Organisation „Skinheads Sächsische Schweiz„, bestätigten, dass die Neonazis es mit dem Widerstand ernst mein(t)en. Dem BfV zufolge zeigen sich Rechtsextremisten „vielfach fasziniert von Waffen und Sprengstoffen„, wobei der Verzicht auf Aktion aus taktischen Gründen erfolgt.19 Gleichwohl weisen Experten auf den steigenden Anteil derjenigen Neonazis hin, „die Gewalthandlungen unter Rückgriff auf kontinuierlich angelegte Sprengstoff- und Waffenlager als konkrete Handlungsoption ansehen„.20
Nachdem die Gruppe „Nationale Bewegung„, die zwischen dem 30. Januar 2000 und dem 30. Januar 2001 in und um Potsdam eine Vielzahl rassistisch und antisemitisch motivierter Straftaten beging, bekannt wurde, sprach man wieder von Anzeichen für terroristische Bestrebungen.21 Der oder die Täter, die eine Serie von Brandanschlägen auf türkische Imbisse und auf eine Trauerhalle auf jüdischem Friedhof verübten, konnten allerdings nicht ermittelt werden. Dem Verfassungsschutz des Landes Brandenburg erschien es damals angemessen, von „Ansätzen zum Rechtsterrorismus, nicht aber schon von Rechtsterrorismus an sich zu sprechen„.Von August 2003 bis Mai 2004 hatten die Jugendlichen aus den „Freikorps Havelland„ mit systematisch geplanten Brandanschlägen gegen türkische und asiatische Imbisse in Brandenburg versucht, ihre Betreiber einzuschüchtern und zur Aufgabe der Geschäfte zu nötigen. Die Mitglieder der terroristischen Vereinigung beteiligten sich nicht an anderen rechtsextremistischen Organisationen.
Die aus der Münchener „Kameradschaft Süd„ hervorgegangene terroristische Vereinigung um Martin Wiese strebte dagegen eine gewaltsame Überwindung der Demokratie an und plante „einen Sprengstoffanschlag auf die Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums am 9. November 2003 in München„.22 Später wurde über einen Anschlag auf dem Münchner Marienplatz nachgedacht. Von den für diesen Zweck illegal beschaffenen 13,87 Kilogramm Sprengstoff waren 12,2 Kilo zwar unbrauchbar. 1,67 Kilo der hochexplosiven TNT und RDX sind jedoch sofort einsatzfähig gewesen.
Die Kritik an Wiese aus der rechten Szene fiel symptomatisch aus: Der „Möchtegernführer„ und „seine Idioten„ in der „Hauptstadt der Bewegung„ hätten nur „verbrannte Erde hinterlassen„.23 Daran ist das erwähnte taktische Kalkül des Spektrums abzulesen, eine „ausgewogene„ Militanz – körperliche Angriffe, Sachbeschädigungen usw. – einzusetzen. Doch immer wieder betreten Akteure die Bühne, denen es als zu wenig erscheint, „Neger„, „Kanaken„, „Zecken„ und andere „Schädlinge der Nation„ verbal zu bedrohen, zu „klatschen„, halbtot zu treten oder zu erstechen.
Der Vergleich der RAF mit dem NSU ist wegen der Unterschiede auf der organisationellen wie Handlungsebene prob-lematisch. Die Historie des deutschen Rechtsterrorismus zeigt zugleich, dass es in der Bundesrepublik einige Braune Armee Fraktionen gegeben hat, die den Kampf gegen das System mit systematisch und weniger systematisch geplanten Aktionen ausgetragen bzw. beabsichtigt haben. Mit Blick auf die Opferstatistik lohnt sich der Vergleich allenfalls: Sind zwischen 1971 und 1993 33 Personen dem Linksterrorismus mit insgesamt 1500 verurteilten Mitgliedern und Unterstützern zum Opfer gefallen, hat die kleine NSU-Zelle mit einem deutlich kleineren Unterstützernetzwerk nach sieben Jahren 10 Opfer zu verantworten. Dabei standen insgesamt 88 Namen (von potentiellen Opfern?) auf einer Liste, die die Polizei gefunden hat. Mindestens 137 Menschen haben nach Recherchen des Tagesspiegels und der „Zeit„ seit 1990 ihr Leben durch Angriffe rechtsextremistischer Gewalttäter verloren.24 Die Amadeu-Antonio-Stiftung spricht gar von 182 Todesopfern. Es sagt viel über die Szene aus, dass die Nazi-Klamottenmarke „Reconquista„ schnell ein „Döner-Mord-Produkt„ auf den Markt warf, das im Spektrum das Potential zum Verkaufshit hatte.


„Reconquista„ vermarktet „Döner-Morde„.

Die Szene feiert die Terroristen und sammelt im Internet Geld für die inhaftierten Unterstützer des NSU.

Wer ist schuld und was tun?

Schnell wurden im NSU-Fall die Schuldigen ausgemacht: „Wir sind beschämt, dass die Sicherheitsbehörden der Länder und des Bundes die über Jahre hinweg geplanten und ausgeführten Verbrechen weder rechtzeitig aufdecken noch verhindern konnten„, so der Bundestagspräsident Norbert Lammert. Es ist zwar in der Tat erforderlich, dass die Sicherheitsbehörden ihre Analysekapazitäten erhöhen, denn eingefahrene Deutungsmuster haben anscheinend die Prüfung der Hypothese nach einem rechtsterroristischen Motiv blockiert.25 Dies ist umso wichtiger, als die Polizei anzweifelt, ob die momentan vorhandenen Strategien und Mittel gegen Rechtsextremismus ausreichend sind, und nach mehr Befugnissen fordert.26
Wenn in der aktuellen Debatte um die Causa NSU vom Versagen der Sicherheitsbehörden die Rede ist, muss man jedoch auch das Versagen der auf die rechtsextremistische Gewalt gerichteten psychologischen und soziologischen Forschung einräumen. Galt doch bis dato die rechts politisch motivierte Gewaltkriminalität als Problem der intellektuell minderbegabten Jugendlichen mit pathologischen Störungen des Sozialverhaltens, die zu 89 Prozent „nicht einmal ansatzweise eine gnoseologisch fundierte Ideologie„ hätten.27 Über die ontologischen, axiologischen und praxeologischen Aspekte der rechtsextremistischen Gewaltverherrlichung bzw. Ideologeme ist damit jedoch noch keine Aussage getroffen.„Arbeit mit ideologisierten Tätern, die glaubt, ideologisierte Haltungen vernachlässigen zu können, sei es, weil sie „nur„ als Fragmente anzutreffen sind, oder sei es, dass Ideologie grundsätzlich die Bedeutung für deviantes und delinquentes Verhalten abgesprochen wird, verkennt [...] die zentrale Bedeutung ideologischer Denkmuster sowohl für die Stabilisierung der ideologisierten Persönlichkeit als auch bei der Tatdynamik.„28



Ein Monopoly-Spiel des NSU: Von der Szene für die Szene

Wenn Politik und Öffentlichkeit sich über die Morde des Zwickauer Nazi-Trios überrascht zeigen, hat man offensichtlich bis heute nicht so richtig verstanden, dass „die Gewalt im Rechtsextremismus enthalten [ist], wie das Gewitter in der Wolke„.29 In diesem Zusammenhang haben tatsächlich alle vorhandenen „Gewitter-Warnsysteme„ versagt. Denn von etwa 25.000 Personen aus den deutschen rechtsextremistischen Milieus gilt laut Verfassungsschutz mehr als ein Drittel (9500) als gewaltbereit. Der Anteil der aggressiven und gewaltorientierten Rechtsextremisten ist von 5000 im Jahr 2009 auf 5600 im Jahr 2010 gestiegen. Obwohl der Verfassungsschutzbericht 2010 „keine rechtsterroristischen Strukturen„ feststellte, hob er „die Affinität von Rechtsextremisten zu Waffen und Sprengstoff„ als „latentes Gefährdungspotential„ erneut hervor und schloss Taten von Einzelaktivisten nicht aus.30


„Ontologie„ und „Praxeologie„ des militanten Rechtsextremismus auf einen Blick. Quelle: dpa

Mit Blick auf die Ergebnisse einer Studie, der zufolge ein Viertel der Bevölkerung sich fremdenfeindlichen Aussagen anschließt,31 gilt es noch einmal zu betonen: „[...] so zutreffend und aufhellend die zahlreichen sozialwissenschaftlichen Befunde über das „besondere Jugendproblem„ sein mögen, so begrenzt bleibt eine wissenschaftliche und/oder politische Sicht, wenn rechtsextreme Orientierungen und Gewalttaten nur als Probleme von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen mit niedrigem Bildungsstatus interpretiert werden […]. Das Vorfeld der „männlichen Hauptschüler„ wird schnell zum Nebenschauplatz, wenn Politiker und Wissenschaftler nicht auch den Blick auf das soziale (auch das eigene) Umfeld wagen.„32


Quelle: Barbara Hans/Benjamin Schulz/Jens Witte ; Angaben in Prozent

Während die Pläne des Bundesinnenministeriums zur Bekämpfung rechter Gewalt – Gesamtkonzeption zur Bekämpfung der Gewalt, gemeinsames Abwehrzentrum, intensivere Ausleuchtung der Szene, Stärkung des BfV, Stärkung des Generalbundesanwalts, technische Maßnahmen (Verbunddatei-Rechtsextremismus, Internetbeobachtung, Verlängerung der Speicherfristen, erweiterte Speicherbefugnis)34 – sich mit einem vertretbaren Aufwand (werden) umsetzen lassen, wird die Arbeit an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die rechtsextremistische Wirklichkeitskonstruktionen ermöglichen, Politik und Gesellschaft viel Einsatzbereitschaft abverlangen.

Die Tabelle zeigt, dass die Ausländerfeindlichkeit nicht nur ein Jugendproblem darstellt, wenngleich ausländerfeindliche Einstellungen von einem beträchtlichen Teil der deutschen Jugendlichen (57,2 Prozent) befürwortet werden. Unter den 40,4 Prozent der ausländerfeindlichen bis sehr ausländerfeindlichen Jugendlichen sind es jeweils 8,5 und 8,2 Prozent, die rechtsextremes Verhalten an den Tag legen (vgl. die Studie „Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter der Gewalt„ des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen e. V.). Der angewandten Extremismusforschung wird in den kommenden Jahren die Aufgabe zukommen, die rechtsextremistischen Radikalisierungsprozesse und -ausprägungen mit innovativen Forschungsansätzen und Methodiken zu erklären. Denn die Annahme, es gebe keinen kausalen Zusammenhang zwischen rechtsextremer Einstellung und Gewalt(bereitschaft) scheint obsolet.

Anmerkungen
So der Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU).
Rüdiger Holecek, Terror aus dem braunen Sumpf, in: Deutsche Polizei, 1/2012, S. 6-9, hier S. 6.
Heinz Fromm, Vom Rechtsextremismus zum Rechtsterrorismus, unter: www.welt.de/politik/deutschland/article13765422/Vom-Rechtsextremismus-zum-Rechtsterrorismus.html (14. Dezember 2011)
Ebd. „Das Terror-Trio hatte staatliche Daten„, unter: www.fr-online.de/neonazi-terror/zwickauer-neonazis--das-terror-trio-hatte-staatliche-daten-,1477338,11249516.html (2. Dezember 2011).
Ebd. Bernhard Witthaut, Vertrauen steht auf dem Spiel, in: Deutsche Polizei, 1/2012, S. 4.
Die Verwendung des Begriffes „Döner-Morde„ soll in diesem Beitrag an die Geschmacklosigkeit deutscher Medien erinnern, mit deren Vorlage er es zu Recht zum Unwort des Jahres 2011 geschafft hat.
Armin Pfahl-Traughber: Der neue Rechtsterrorismus. Versuch einer Antwort auf zwölf Fragen, in: MUT, Nr. 530, Januar 2012, S. 58-65, hier S. 61.
Pfahl-Traughber, S. 61.
Heinz Fromm, S. 2.
Steffen Kailitz, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, 2004, S. 101.
Benjamin Meyer, Ulf Meyer-Rewerts, Die lange Spur des Neonazismus, unter: www.cicero.de/berliner-republik/rechtsterrorismus-geschichte-rechtsradikale-uebergriffe/46596 (24. November 2011).
Michael Sontheimer, Was RAF und NSU verbindet, unter: www.cicero.de/berliner-republik/terrorzellen-in-deutschland-was-raf-und-nsu-verbindet/47939 (11. Januar 2012).
Steffen Kailitz, S. 98
Andreas Klärner, „Zwischen Militanz und Bürgerlichkeit„ - Tendenzen der rechtsextremen Bewegung am Beispiel einer ostdeutschen Mittelstadt, in: Andreas Klärner/Michael Kohlstruck (Hrsg.), Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Bonn 2006, S. 44-67, hier S. 51.
Pfahl-Traughber, S. 65.
Heinz Fromm, S. 2-3.
Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2005, Berlin, S. 57.
Pfahl-Traughber, S. 61.
Steffen Kailitz, S. 102.
Bundesministerium des Innern (Hrsg.), S. 57.
Rechtsextremismus: Wessis gegen Ossis, unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-28721181.html (29. September 2003).
Frank Jansen, Heike Kleffner, Johannes Radke, Toralf Staud, Tödlicher Hass: 137 Todesopfer rechter Gewalt, unter: www.tagesspiegel.de/politik/rechtsextremismus/toedlicher-hass-137-todesopfer-rechter-gewalt/1934424.html (15. September 2010).
Pfahl-Traughber, S. 65.
Bernhard Witthaut, S. 4.
Andreas Marneros, Bettina Steil, Anja Galvao, Der soziobiographische Hintergrund rechtsextremistischer Gewalttäter, in: Monatsschrift für Kriminologie 5 (86), 2003, S. 364-372.
Jan Buschbom: Ideologisierte Gewalttäter. Eine Skizze der Klientel von Violence Prevention Network, in: Violence Prevention Network (Hrsg,): Infobrief, 2&3/2011, S. 2-7, hier S. 4-5.
Heinz Fromm, S. 1.
Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2010, Berlin,
S. 57-58.
Vgl. Oliver Decker, Elmar Brähler u. a., Die Mitte in der Kriese, Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Berlin 2010.
Wolfgang Frindte, Rechtsextreme Gewalt – sozialpsychologische Erklärung und Befunde, in: H. W. Bierhoff, U. Wagner (Hrsg.), Aggression und Gewalt. Phänomene, Ursachen und Interventionen, 1998, S. 165-205, hier S. 186.
Barbara Hans, Benjamin Schulz, Jens Witte: Rechtsextremismus. Im rechten Winkel der Republik, unter: www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,797899-8,00.html (17. November 2011).Rüdiger Holecek, Pläne des Bundesinnenministers zur Bekämpfung rechtsextremistischer Gewalt, in: Deutsche Polizei 1/2012, S. 9-10.