Wissenschaft  und Forschung

Vortäuschung von Sexualdelikten

Vernehmungstaktik, Aussageanalyse, Glaubwürdigkeitsprüfung und rechtsmedizinische Aspekte

Von Dr. M.A. Bettina Goetze LL.M, Kriminologin
Dr. Katja Jachau, Fachärztin für Rechtsmedizin, Martin-Luther-Universität Halle, Außenstelle Magdeburg


Die polizeiliche Aufklärungsquote in Deutschland bei Vergewaltigungen und sexueller Nötigung ist mit einem Durchschnittswert von über 80 v.H. erfreulicherweise recht hoch einzustufen und über die Jahre konstant geblieben. Bei den Tätern handelt es sich häufig um Personen aus dem sozialen Nahbereich – ein Kriterium, das zugleich die berechtigte Vermutung eines hohen Dunkelfeldes nach sich zieht. Nicht selten handelt es sich um Abhängigkeits- und Machtverhältnisse innerhalb familiärer oder partnerschaftlicher Strukturen, denen das Opfer ausgeliefert ist. Die Nötigung zu sexuellen Handlungen ist für die Opfer besonders erniedrigend. Nicht selten sind gravierende psychische Folgen Begleiterscheinung der Viktimisierung. All diese Erkenntnisse sind längst nicht neu und hinreichend belegt.

Um die Opfer besser zu schützen, trat im Jahr 2013 das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) in Kraft. Hierbei wurde u.a. die strafrechtliche Verfolgbarkeit von Sexualstraftaten verlängert und die Verjährungsfrist zivilrechtlicher Ansprüche deutlich angehoben. Des Weiteren ist, sofern möglich, auf die Vermeidung von Mehrfachvernehmungen zu achten. Dies gilt insbesondere für Vernehmungen kindlicher Zeugen.
Die Bearbeitung dieser Delikte erfordert ein hohes Maß an Professionalität und Empathie. Dennoch sind sowohl belastende als auch entlastende Beweise für die strafprozessuale Tätigkeit zu erheben, weswegen in alle Richtungen ermittelt werden muss. Die Erfahrungen aus der Praxis vergegenwärtigen immer wieder ein Themengebiet, das innerhalb der kriminologischen Forschungen viele Jahre weitgehend vernachlässigt wurde: Die Vortäuschung von Sexualdelikten, die den Straftatbestand des § 145d StGB erfüllen.

Darüber hinaus ist eine strafbare Handlung nach § 164 StGB in Erwägung zu ziehen.
Das Bayerische Landeskriminalamt beruft sich auf eine Untersuchung zu Vergewaltigungen und sexueller Nötigung, die im Ergebnis feststellt, dass deutlich mehr als die Hälfte der angezeigten Delikte vorgetäuscht sei.1 Wie hoch die Anzahl der Falschbeschuldigungen tatsächlich ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden.
Die adäquate Aufklärung von Sexualdelikten kann ein schwieriges Feld sein, da die Ermittlungsbehörden bzw. Vernehmungspersonen feststellen müssen, ob bei der Tatbeschreibung authentische Handlungen geschildert werden oder ein „Produkt der Fantasie“ vorliegt. Welche Ermittlungsschritte in diesen Fallkonstellationen der Wahrheitsfindung förderlich erscheinen, wird fortfolgend zu klären sein.

„Man sollte sich davor hüten, aus bestimmten Verhaltensweisen des Opfers auf Wahrheit oder Unwahrheit zu schließen.“


Schwierig gestaltet sich die Beweisführung, wenn keine Sachbeweise in Form von forensisch gesicherten Spuren vorliegen. Die Spezifik von Sexualdelikten ist, dass sich die überwiegenden Taten ausschließlich zwischen beschuldigter Person und Opfer ereignen. Somit liegen in den meisten Fällen auch keine Personenbeweise vor. Dann kann grundsätzlich der Rückgriff auf Aussageanalysen und Glaubhaftigkeitsgutachten Licht ins Dunkel bringen, denn diese Instrumente gelten als signifikante, ermittlungsunterstützende Mittel der Wahrheitsfindung. Um es vorwegzunehmen: Derartige Begutachtungen verfolgen keineswegs das vorrangige Ziel, die Opferaussagen anzuzweifeln. Vielmehr stützen sie die Beweissicherung, da die Glaubwürdigkeit der tatbezogenen Angaben durch Sachverständige bestätigt werden kann. Das Opfer kann dadurch mit einer attestierten Sicherheit das Verfahren bewältigen, weil ihm trotz ggf. dünner Beweislage geglaubt wird.
Angaben der Staatsanwaltschaften zufolge bestätigen ca. 80 v.H. der Begutachtungen im Zusammenhang mit Sexualstraftaten die Glaubhaftigkeit der getätigten Angaben. Es dürfte sich demnach um erlebnisbezogene Aussagen handeln. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein Fünftel der untersuchten Fälle Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen aufkommen lassen. Aufgrund der Sensibilität der Vortäuschungsthematik sollten einige Hinweise Beachtung finden, bevor weitgehende Sicherheit der Beurteilung eines Falles erreicht werden kann.
Frühzeitig geäußerte Skepsis am Tatereignis kann rasch in eine Verweigerungshaltung des (vermeintlichen) Opfers münden und eine gelingende Vernehmungssituation erheblich blockieren. Grundsätzlich sollte die Bewertung aller Fakten auch nur im erfahrenen Team erfolgen. Die Auswahl und Durchführung einer tauglichen Vernehmungsmethode ist eine hohe Kunst. Unabhängig davon ist immer der Einsatz einer Videovernehmung ratsam. Sie ermöglicht zum späteren Zeitpunkt – insbesondere wenn Sachverständige eine Aussageanalyse oder das oben benannte Glaubhaftigkeitsgutachten erstellen – die zusätzliche Beurteilung der nonverbalen Kommunikation. Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Vor diesem Hintergrund ist die Etablierung eines Vernehmungszimmers mit Videotechnik wenigstens in jeder Polizeidirektion empfehlenswert. Wenn keine Zeugenvernehmung per Video erfolgt, beschränkt sich eine spätere Analyse lediglich auf die verschriftlichte Dokumentation der Vernehmung. Visuelle Botschaften entfallen somit bedauerlicherweise völlig.

Die Vernehmung


Die Wahl der richtigen Vernehmungstaktik ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Ermittlungen. Ferner gilt es, die Aussagetüchtigkeit der Auskunftsperson auf den Prüfstand zu stellen. Im Bereich der Sexualdelikte bestehen Besonderheiten. Die (realen) Opfer sind häufig traumatisiert, so dass die Wahrnehmung und korrekte Wiedergabe der Ereignisse beeinträchtigt sein kann. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ist möglicherweise der Reifegrad der Persönlichkeit noch nicht im erforderlichen Maße ausgeprägt. Das bedeutet also nicht, dass jene Personen lügen, sondern vielmehr, dass die psychologischen Voraussetzungen zur verlässlichen Wiedergabe nicht vorhanden sind. Wenn die Aussagetüchtigkeit gewährleistet ist, kann sich die freie Schilderung als wertvoll erweisen. Hier sollte sich die vernehmende Person vorerst tendenziell zurückhalten mit Nachfragen. Diese ausführliche Schilderung umfasst konkrete Einzelheiten, Eindrücke, Handlungen, Situationsbilder und Wahrnehmungen mit dem Ziel einer detailgetreuen Wiedergabe des Tatereignisses durch das Opfer.

Einstiegsbeispiel:
Bitte schildern Sie zunächst ausführlich die letzten 24 h vor der Tat. Wo befanden Sie sich zu welchem Zeitpunkt? Mit welchen Personen waren Sie zusammen? Welche Dinge haben Sie verrichtet?

Sodann sollte der Übergang zum Tathergang erfolgen:
Bitte schildern Sie nun den gesamten Tathergang mit allen Details (Wegstrecke, Wahrnehmungen, Wetterverhältnisse, Täterbeschreibung, Tatort, Zeitangaben etc.)

Je länger das Opfer Bericht erstattet, desto besser die spätere Untersuchungsmöglichkeit der Aussagen. Selbst wenn innerhalb dieser Erzählung an einer Stelle Unklarheiten auftreten, sollte die aussagende Person keineswegs im Redefluss unterbrochen werden. Für Nachfragen besteht zu einem späteren Zeitpunkt oder am Ende der Berichterstattung noch immer genügend Raum. Nach Beendigung der freien Darstellung des Hergangs sollte die aussagende Person nicht weiter befragt werden. Stattdessen empfiehlt sich die Beendigung der Vernehmung. An den nachfolgenden Tagen sollte eine Vernehmungspause eingelegt werden. Nach der freien Schilderung muss eine genaue Untersuchung der objektiven (messbaren) Fakten erfolgen. Hierbei stehen die Auswertung von Telefondaten, die Durchführung von Weg-Zeit-Experimenten und darauf basierende Tathergangsrekonstruktionen im Mittelpunkt. Zu berücksichtigen sind auch die Aufdeckung von Inkonsistenzen im Aussageverhalten sowie weitergehende Vernehmungen im sozialen Nahbereich des Opfers. Das Ziel sollte die intensive Befassung mit der Biographie des mutmaßlichen Opfers beinhalten.

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