Amok, Selbstmordattentat oder terroristischer Amoklauf?

Von Dr. Dorothee Dienstbühl, Professorin an FHöV NRW

Eine kriminologische Betrachtung


Das Jahr 2016 wird als ein Jahr der Gewalt in europäischer und insbesondere deutscher Erinnerung bleiben. Es beginnt mit den massenhaften, brutalen Übergriffen in der Neujahrsnacht in Köln, Hamburg und anderen Städten und endet im Dezember mit dem Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Berliner Breitscheidplatz mit 12 Toten und 55 Verletzten. Vor allem der Juli ist geprägt von Terror, Hass und Gewalt.

Nur wenige Tage nach dem Terroranschlag in Nizza wurde Deutschland innerhalb einer Woche durch vier Bluttaten erschüttert. Insgesamt zehn Menschen wurden dabei getötet, 60 Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt. Die kurze Aufeinanderfolge an unterschiedlichen Orten schwächte das kollektive Sicherheitsempfinden. Gleichzeitig verschwammen die Begriffe von Amok und Terror. Die Ereignisse zeigten, wie schwierig es inzwischen ist, die richtigen Begriffe für die verschiedenen Verbrechen zu finden. Doch die Unterscheidung ist relevant, um sie verstehen und einzuordnen zu können.   

Ein Monat der Gewalt: Juli 2016


Nach dem Terroranschlag vom 14. Juli 2016 in Nizza, der 84 Menschen das Leben kostete und 308 verletzte, befand sich Frankreich erneut in einem Zustand des Schreckens und der Trauer. Kaum in diesen versetzt, läutete ein vermeintlicher Putschversuch am 15./16. Juli 2016 gewalttätige und tiefgreifende Entwicklungen in der Türkei ein. Während man in Europa noch versuchte, diese Krisenereignisse und deren Folgen zu begreifen, wurde auch Deutschland von Hass und Gewalt heimgesucht.
Am 18. Juli 2016 bestieg der 17-jährige afghanische Flüchtling Muhammad R. (Name laut Papieren: Riaz Khan A.) in Ochsenfurt eine Regionalbahn in Richtung Würzburg und ging etwa 15 Minuten später mit einem Beil und einem Messer unter Allahu-Akbar-Rufen auf die Fahrgäste los. Er verletzt fünf Menschen, darunter eine Familie aus Honkong schwer, den Vater lebensgefährlich. Durch eine Notbremsung kam der Zug zum Stehen, der Täter floh und schlug einer Spaziergängerin, die mit ihrem Hund draußen war, mit dem Beil zweimal ins Gesicht. Ein Spezialeinsatzkommando aus München war aufgrund eines anderen Einsatzes in der Nähe und reagierte umgehend. Als sie den Täter unweit des Zuges aufspürten, griff dieser mit seinen Waffen einen Polizisten an und musste von der Polizei erschossen werden.
Am frühen Freitagabend des 22. Juli 2016 eröffnet der 18-jähriger Deutsch-Iraner Ali David S. das Feuer auf Menschen im Olympia-Einkaufszentrum in München Moosach. Er tötet neun Menschen und verletzt 35 weitere zum Teil schwer, bevor er sich selbst mit einem Kopfschuss richtete. Zuvor hat er via Facebook versucht, gezielt junge Menschen in das dort befindliche McDonald´s Schnellrestaurant zu locken. Aufgrund diverser Fehlmeldungen in sozialen Netzwerken von angeblichen weiteren Gewalttaten in München, wird zeitweise von einem Terroranschlag durch mehrere Täter ausgegangen. Die Behörden bitten die Menschen, in ihren Wohnung zu bleiben, die Verkehrsbetriebe halten stundenlang den Verkehr an, viele Münchner nehmen in der Gefahrenlage völlig fremde Menschen in ihren Wohnungen auf, um sie in Sicherheit zu bringen. Die Einstufung der Tat als geplanter Amoklauf eines Einzelnen wird im Nachhinein durch die polizeilichen Ermittlungen bestätigt.

Am 24. Juli 2016 erschüttert die Meldung eines Angriffes in Reutlingen mit einem langklingigen Messer auf offener Straße Deutschland erneut. Ein syrischer Asylbewerber (21) tötet eine 45-jährige Frau auf offener Straße, die laut Medienberichten schwanger gewesen sein soll, und verletzt fünf weitere Personen zum Teil schwer. Er schlug mit dem langen Messer die Scheiben eines Autos ein und verletzte dabei zwei Personen, im Anschluss verletzte er einen 23-jährigen Mann in einer Gaststätte im Gesicht schwer, zwei weitere Frauen wurden durch seine ungezielte Aggression ebenfalls verletzt. Auf der Flucht läuft der 21-jährige Täter vor ein vorbeifahrendes Auto, wird angefahren und kann durch die Polizei gestellt werden. Die Gewalttat erschütterte Reutlingen immens. Obwohl der Gewaltrausch nur ca. sieben Minuten andauerte, blieb neben dem toten Opfer und den fünf verletzten Menschen, entsetzte und geschockte Passanten zurück, die die brutale Tat mitansehen mussten. Die Polizei richtete vor Ort ein Kriseninterventionsteam ein.
Noch am selben Abend des 24. Juli 2016 folgt die nächste Gewalttat im öffentlichen Raum. Der syrische Asylbewerber Muhammad D. (27) sprengte sich im Eingangsbereich eines Musikfestivals im fränkischen Ansbach in die Luft und verletzt 15 weitere Menschen zum Teil schwer. Den selbst gebastelten Sprengsatz, den er in einem Rucksack mit sich führte, wollte er während eines Konzertes auf dem Festivalgelände zünden. Aufgrund dessen, dass er keine Eintrittskarte besaß, wurde ihm der Einlass verweigert, was zur Selbstsprengung vor dem Gelände führte und somit die Besucher höchstwahrscheinlich vor einer noch schlimmeren Bluttat bewahrte.

Motivlagen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede


Die vier genannten Gewalttaten besitzen neben der zeitlichen Nähe zueinander einige Gemeinsamkeiten, aufgrund dessen sie im Zusammenhang diskutiert wurden, jedoch deutlich mehr Unterscheidungsmerkmale. Die vier Täter sind junge Männer zwischen 17 und 27 Jahren. Die drei Täter aus Würzburg, Reutlingen und Ansbach kamen als Flüchtlinge nach Deutschland, zwei aus Syrien, der in Würzburg getötete Angreifer nach ersten Angaben aus Afghanistan, wobei sowohl die Herkunft als auch das Alter angezweifelt wurden. Der Amoklauf in München und die Terroranschläge in Würzburg und Ansbach wurden jeweils geplant, der Mord in Reutlingen war nach Würdigung aller Umstände eine spontane Tat von einem als bereits als hochgradig aggressiv auffälligen Menschen. Die Angreifer von München und Ansbach waren jeweils wegen psychischer Probleme in Behandlung.
Fraglich ist, ob die zeitliche Nähe der Gewalttaten zueinander zufällig oder möglicherweise ein bestimmender Faktor ist. Denn tatsächlich steigt das Risiko für Nachahmungstaten durch Personen, die sich schon lange mit der Planung einer Gewalttat herumtragen, durch ein großes öffentliche Echo, das in den Medien durch eine Schreckenstat hervorgerufen wurde, an. Die vier dargestellten Gewalttaten folgten sehr dicht aufeinander und sehr dicht nach dem Anschlag von Nizza. Nun muss man jedoch die Beweggründe voneinander trennen.
Der Anschlag des Muhammad R. muss als terroristischer Akt verstanden werden. Bezüge zum Islamischen Staat (IS) konnten festgestellt werden. Die Beanspruchung der Tat durch den IS kann in diesem Zusammenhang eher als Formalie betrachtet werden: Es geht nicht darum, ob und inwiefern tatsächlich Kontakt zwischen dem Attentäter und Organisationsmitgliedern bestand, sondern ob die Ziele dieselben sind. R. sah sich als Krieger, als Löwe und Zugehöriger einer Armee, der eine Mission auszuführen hatte. In einem nach dem Tod des Jugendlichen veröffentlichten Video bezeichnete er sich selbst als Soldat des IS, der Ungläubige töten wird, eine von ihm selbst gemalte IS-Flagge wurde in seinem Zimmer gefunden, dass er bei einer bayrischen Familie bewohnte, die ihn aufgenommen hatten. Mit seiner Tat geht sein Name in die Geschichte ein – im Schrecken der westlichen Welt und als Märtyrer für gleichgesinnte Terroristen.
Der Anschlag von Ansbach besitzt einen sichtbaren Bezug zu dem in Würzburg: Beide Täter handeln in terroristischer Absicht, beide Täter handelten mit islamistischem Hintergrund und im Sinne der Zielsetzung des Islamischen Staates. In den persönlichen Sachen des Täters Muhammad D. wurden entsprechende Handyvideos von IS-Akteuren gefunden, aber auch eines von ihm, auf welchem er die Tat ankündigt. Eine anknüpfende Tat an Würzburg wird somit wahrscheinlicher, denn so wird aus einzelnen Anschlägen eine Serie. Terroristisches Trittbrettfahren ist eine Kriegsstrategie, um den bereits verwundeten Gegner weiter zu schwächen. Zudem sollte D. abgeschoben werden, möglicherweise empfand er Druck zu Handeln.
Die Tat von Reutlingen ist zunächst eine Beziehungstat, die in als aggressiver Impuls aus einem Streit heraus betrachtet werden kann. Der Täter tötete mit dem Messer eine 45-jährige Polin, mit der er wohl eine Beziehung führen wollte, die sie jedoch verweigerte. In dem Gewaltrausch verlagerte der Täter nach der Ermordung der Frau die Gewalt auf die Umgebung. Dass der als aggressiv bekannte und bereits wegen körperlichen Übergriffen auffällig gewordene Mann der ein Messer mit sich führte, verstärkte zunächst den Eindruck einer möglichen geplanten Tat. Deswegen musste auch ein sogenannter „Ehr-Hintergrund“ als Motiv für die Tötung berücksichtigt werden. Jedoch tritt selbiges aufgrund der Spontanität und den eingesetzten Gewaltrausch, der sich noch gegen andere Personen in der Folge richtete, in den Hintergrund. Hier kann man von einem regelrecht „klassischen“ Amoklauf ausgehen, der in einem völligen Wutanfall im engen sozialen Umfeld (gewünschte Partnerin, von der der Täter abgewiesen wurde) begann und den der Täter in blinder Wut auf das Umfeld übertrug.
Die mutmaßliche und geplante Gewalttat von München war ebenfalls keine direkte Reaktion auf den Anschlag von Würzburg. Hier erscheint eher das Datum, nämlich der fünfte Jahrestag des Massenmordes durch Anders Breivik maßgeblich.

Amok als Überbegriff und Randphänomen


Ali David S., der mit 18 Jahren darauf bestand, nur noch seinen zweiten Vornamen David zu führen, beschäftigte sich bereits ein Jahr vor der Tat intensiv mit Amok allgemein, vor allem aber mit Breiviks Schreckenstat in Norwegen. Zwar wurden Aufzeichnungen gefunden, wonach der Täter stolz auf den gemeinsamen Geburtstag mit Adolf Hitler und sein Herkunftsland, dem Iran (Land der Arier) gewesen sei. Dennoch war die Tat wahrscheinlich nicht extremistisch motiviert. Der 18-Jährige Münchner war der Polizei zuvor nicht als Täter, sondern als Opfer von Mobbing und Diebstahl bekannt. Seine Tat kann entsprechend als individueller Racheakt bewertet werden. Es ist von einem Amoklauf auszugehen.
Amoktaten werden von religiös motivierten Selbstmordattentaten unterschieden. Der Begriff bezeichnet zunächst „nicht materiell-kriminell motivierte, tateinheitliche, mindestens in selbstmörderischer Absicht durchgeführte, auf den unfreiwilligen Tod mehrerer Menschen zielende plötzliche Angriffe“.1 Häufig geht es dabei um eine psychische Extremsituation, aus der heraus es zu einer „willkürlichen, anscheinend nicht provozierten Episode mörderischen oder erheblich (fremd-) zerstörerischen Verhaltens kommt.“2 Dies passt zur Gewalttat in Reutlingen. Die Tat von München war geplant. Und mittlerweile wird Amok nicht ausschließlich für spontane, sondern auch geplante Taten verwandt. Studien widersprechen sich, ob die Mehrzahl der Täter unter einer psychischen Erkrankung leiden. Die Angaben schwanken in diese Frage zwischen 8% und 68%.3 Übereinstimmung herrscht dahingehend, dass die Täter überwiegend männlich und zwischen 21-35 Jahren alt sind. In Fällen von School Shootings sind die Täter deutlich jünger; der jüngste Amokläufer an einer Schule ist elf Jahre alt. Gemäß der verschiedenen Studien zu Amokläufen in Deutschland sind 40-60% der Täter zum Tatzeitpunkt ledig und gehören unterschiedlichen sozialen Schichten an. Häufig beginnt der Amoklauf im engen sozialen Nahbereich und weitet sich dann auf Unbeteiligte aus, wie in dies in Reutlingen zu beobachten war. Die Opferzahlen völlig Unbeteiligter liegen bei 36-50%. Der Tatort liegt vornehmlich im öffentlichen Raum (über 50%), die Schule ist mit 13% betroffen. Der Mittelwert der verletzten Personen liegt bei 3,2 Personen, der Mittelwert der Todesopfer bei 2,7 Personen pro Tat. Auffallend ist, dass in 63% der Fälle Schusswaffen verwendet wurden, die zweitgrößte Gruppe bilden Fahrzeuge mit 12%. Die Tat endet in 26-46% mit dem Suizid des Täters. Lediglich etwa 10% der Amokläufer seien mit Alkohol, Medikamenten und / oder Drogen intoxikiert.4 Inwiefern Amokläufer zuvor Opfer von physischer und / oder psychischer Gewalt waren, kann nicht einheitlich beantwortet werden, da zum Teil die notwendigen Informationen in den Studien fehlten.

Realität löst Trennschärfe der Begriffe auf


Medienberichte über psychisch kranke „lone actors“ und „Turboradikalisierung“ friedlicher Schutzsuchender in Deutschland suchen nach einfachen und allseits einleuchtenden Erklärung für diese Art krimineller Phänomene. Denn gerade Personen, die als Einzeltäter auftreten, hatten nach hiesigem Kenntnisstand kaum direkten Kontakt zum IS, noch waren sie in deren Ausbildungscamps. Entsprechend werden Medienberichte, wonach Messerangriffe von Einzeltätern vom IS als deren Taten propagiert werden, nicht selten angezweifelt. Am 16. Oktober 2016 wurde ein 16-jähriger Junge von einem unbekannten Täter in Hamburg direkt an der Alster erstochen. Der Angriff erfolgte in Sekundenschnelle, er wurde nicht von einem Raub begleitet und es gibt nach Ermittlungen der Polizei keinerlei Beziehung zwischen Täter und Opfer. Die 15-jährige Begleiterin beschrieb den Täter laut Medienangaben mit „südländischem Erscheinungsbild“. Wenige Tage später reklamierte der Islamische Staat den Mord für sich.5 In der Tat hatten sie zuvor wiederholt zum „Straßen-Jihad“ aufgerufen, dennoch äußerte die Hamburger Polizei Zweifel. Vorfälle unvermittelter Gewalt durch einzelne auf ihnen fremde Personen ereigneten sich in weiteren deutschen Städten, so zum Beispiel in Aschaffenburg im September 2016, als ein Radfahrer einem Fußgänger im Vorbeifahren ein Messer in den Rücken gestoßen hat.6 Zu der Tat gab es keinerlei Bekenntnis, das Motiv des als dunkelhäutig beschriebenen Täters ist unklar. Gleichzeitig scheint er bislang nicht erneut in Erscheinung getreten zu sein.
Die Zugehörigkeit von Tätern, die alleine auftreten, ist schwierig einzuordnen. Und fehlt die terroristische Organisation, fällt es zuweilen schwer, die Täter als Terroristen einzuordnen. Dies gilt sowohl für die Täter von Würzburg und Ansbach, aber beispielsweise auch für den terroristischen Attentäter Arid Uka.7
Zuweilen geraten die Begriffe Amok und Terrorattentat durcheinander. Und in der Tat sind die Übergänge fließend. Bereits 2011 verwischte die Schreckenstat des Norwegers Anders Behring Breivik die Trennlinie zwischen Amok und Terror. Breivik zündete am 22. Juli 2011 in Oslo eine Bombe im Regierungsviertel, bei dem acht Menschen starben und richtete kurz darauf auf der Ferieninsel Utøya ein Massaker an, indem der 69 Menschen binnen 90 Minuten erschoss. War dies nun ein Amoklauf oder ein terroristisches Attentat? Vor allem seine erklärte Absicht, Norwegen u.a. gegen Islam und „Kulturmarxismus“ verteidigen und für alle Fehlentscheidungen die regierenden Sozialdemokraten bestrafen zu wollen, spricht für ein terroristisches Motiv. Sein Manifest, dass er vor der Tat versendete, ist ein Potpourri zusammengewürfelter Texte und Blogs, durch ihn zum Teil verändert. Somit handelt es sich weniger um eine Erklärung im Sinne einer Propaganda der Tat, denn die Einschätzung der europäischen Verhältnisse und insbesondere seine Selbstwahrnehmung und seine wahrgenommene geschichtliche Rolle waren völlig verzerrt. Es gab kein konsensfähiges Leitbild, das von mehreren Personen geteilt wurde. Die Einschätzung seiner Person durch die bestellten Gerichtsgutachter wies gravierende Persönlichkeitsstörungen auf. Auch wenn er im zweiten rechtspsychiatrischen Gutachten schließlich für zurechnungsfähig erklärt wurde, blieb seine psychische Disposition, die das Bild eines irrationalen Amokläufers stützt und nicht das eines rational agierenden Terroristen, der mit seinen Taten eine gesellschaftliche Änderung herbeiführen möchte. Er war keiner Gruppe zuzuordnen, gehörte keiner terroristischen Organisation an. Er hat zwar versucht, bei Rechtspopulisten Fuß zu fassen, jedoch schaffte er es auch dort nicht, sich zu etablieren. Als einzelner Krieger wollte er eine ausgedachte Elite anführen, die es gar nicht gibt, als Kommandant einer Fantasiearmee, für die er sich eine eigene Uniform kreiert hat. Breivik hat sich eine neue Identität gesucht, was typisch für Amokläufer ist.8 So unterschiedlich die Gutachten im Gerichtsprozess um die Schuldfähigkeit Breiviks waren: Sie alle attestierten ihm eine psychische Konstitution jenseits geistiger Gesundheit in seinen Toleranzen. Terrorismus aber ist kein Ausdruck von Geisteskrankheit, sondern Terror durch Gewalt ist Mittel und Kalkül. Die Frage, die jeder beantworten muss, der Breivik als einen Terroristen betrachtet, ist, ob er dieses Attentat auch verübt hätte, wenn er geistig gesund gewesen wäre.
Doch muss diese Frage unbedingt von der ethischen Schuldfrage gelöst werden. Es geht nicht darum, einen Mehrfachmörder seiner Tat zu entschuldigen, wenn er als irrationaler Amokläufer kategorisiert wird. In der gesellschaftlichen Debatte wird Schuldunfähigkeit noch immer als eine unerträgliche Entschuldigung für Leid und Schrecken betrachtet. Darum geht es aber nicht, sondern darum, nüchtern Tatantrieb und Motivation zu klären.
Genau das fällt auch in Deutschland schwer, gerade wenn es um terroristische Einzeltäter oder Amokläufer geht. Die Täter von Würzburg und Ansbach waren Asylbewerber. Sie wurden in Deutschland als Schutzbedürftige aufgenommen und versorgt. Gerade dieser Umstand erschwert das Verstehen der Taten, die islamistisch motiviert waren. In diesem Zusammenhang machte der Begriff „Turboradikalisierung“ Furore, der das Phänomen benennen soll, wenn Menschen sich im Aufnahmeland binnen kürzester Zeit radikalisieren und direkt zu terroristischen Attentätern werden. Denn tatsächlich treibt auch hier vor allem die Schuldfrage die Diskussion an: Wer hat Schuld daran, dass sich diese jungen Menschen, die nach Deutschland für eine neue Chance in ihrem Leben kamen, zu islamistischen Terroristen zu werden? Politiker äußerten den Verdacht, dass die späteren Täter aufgrund erlebter Traumata plus negativer Erfahrungen zu Extremisten wurden. Natürlich ist eine, vor allem junge Person, die nicht stabil im Leben steht, bereits Aggressionsproblematiken und dergleichen besitzt generell eher für extremistische Ansätze zu begeistern. Allerdings ist Radikalisierung ein Prozess, der mehrerer Faktoren und psychischer Dispositionen der Person bedarf, damit diese Faktoren greifen können. Dabei geht es zwar nicht um eine bestimmte Mindestzeit, jedoch bedarf sie einer Entwicklung. Ein solcher Prozess steht eben dem Gedanken einer Turboradikalisierung diametral entgegen und zeugt von wenig Kenntnis der Materie.9 Vor allem wird der Begriff mit eher passivem Verhalten der Täter verbunden, denn solche sei das Ergebnis einer Gehirnwäsche. Den eigenen Beitrag, das ewige Empfinden, in der Opferrolle zu sein, Hass, eine Überhöhung eigener Werte, was jegliche Gewalt rechtfertigt, übersehen die Verfechter solcher Ansätze bevorzugt.
Ob sie gezielt und von IS-Funktionären nach Europa respektive Deutschland geschickt und explizit beauftragt wurden oder ob sie sich freiwillig mit den Zielen des IS identifizierten, ist bislang nicht abschließend geklärt. Für die Zuordnung der Taten ist das relativ unerheblich. Solche Anschläge funktionieren zur Not auch ohne vorherigen persönlichen Bezug zu Akteuren der Gruppe, solange die Gewalttat unter deren Banner ausgeführt wird. Wer als Muslim „Allahu Akbar“ brüllt, noch den IS in einen Kampfruf einbaut und dieser den Täter im Nachhinein zu einem ihrer Kämpfer, einem ihrer Löwen, erklärt, der ist IS-Kämpfer. Wer bei solchen Attentätern auf eine Art Mitgliedsausweis oder einen schriftlichen Marschbefehl zur konkreten Tat hofft, verkennt das Rekrutierungsprinzip und das Konzept des Islamischen Staates. Der Zweck des Anschlages bestimmt die Zurechnung, auch für das Terrornetzwerk selbst: Die Zugehörigkeit konstatiert sich beispielsweise durch virtuellen Kontakt, Facebook-Gruppen – oder eben auch erst durch einen Anschlag.

Steigende Kriminalitätsfurcht als Resultat


Gewalttaten wie diese, die uns im Alltag und im öffentlichen Raum unvorbereitet treffen und die vor allem auf zufällige Opfer abzielt, verletzen das allgemeine Sicherheitsempfinden in nachhaltiger Weise. Deutschland erlebt aktuell die Thematisierung unterschiedlicher Arten von Gewalt als regelrecht allgegenwärtig. Der Amoklauf in München wurde von vielen Menschen im ersten Moment instinktiv als islamistischer Terroranschlag bewertet. Und das ist kein Wunder: Am selben Tag veröffentlichte unter anderem die ZEIT einen Artikel zu einer Umfrage von Infratest Dimap über die aktuelle Angst vor Terrorismus, die bei den Befragten einen Anteil von 77% offenbarte, die Angst vor Terroranschlägen in Deutschland hatten.10 Zweifelsohne wirkten hier die Eindrücke der Anschläge in Paris, Brüssel, Nizza und schließlich das offenbar islamistisch motivierte Attentat von Würzburg vier Tage zuvor ein.
Und in keinem Jahr gab es derart viele Anschläge von islamistischen Terroristen sowohl in Deutschland: Bereits am 26. Februar 2016 wurde ein Sprengstoff-Anschlag auf ein Gebetshaus der Sikh durch islamistische Jugendliche verübt. In der Nacht zum 29. Mai 2016 wurde eine 70-jährige Frau in ihrer Wohnung in Bad Friedrichshall ermordet, an mehreren Stellen wurden vom mutmaßlichen pakistanischen Täter islamische Schriftzeichen angebracht. Obwohl Sicherheitsbehörden nicht von einem terroristischen Akt sprechen wollen, können die Tatumstände so gedeutet werden. Laut Anklage wollte der Täter eine „Ungläubige“ töten.11 Im Juli fanden schließlich die Anschläge in Ansbach und bei Würzburg statt.12
Insgesamt steigt die Kriminalitätsfurcht in Deutschland Umfragen zufolge seit rund fünf Jahren an. Die Menschen in Deutschland haben Angst vor Terroranschlägen, vor Überfällen und Frauen vor allem auch vor Übergriffen. Bereits im Januar 2016 zeigte sich nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Allensbach eine steigende Angst in der Bevölkerung, Opfer von Kriminalität zu werden. Vor fünf Jahren fühlten sich noch zwei Drittel der Befragten sicher, lediglich 26 Prozent machten sich Sorgen, Opfer eines Verbrechens werden zu können. 2014 stieg dieser Anteil bereits auf 45 Prozent, im Frühjahr 2016 lag er schließlich bei 51 Prozent. Davon fühlte sich zwar nur eine Minderheit von ca. neun Prozent akut und im Alltag bedroht, jedoch hat sich in den vergangenen Jahren von drei Prozent verdreifacht: Fünf Prozent der Männer und 12 Prozent der Frauen fühlen sich akut bedroht. Vor allem Frauen und Menschen über 60 Jahre fühlen sich häufiger bedroht. Menschen aus Ostdeutschland haben mehr Angst davor, Opfer krimineller Handlungen zu werden, als Menschen aus Westdeutschland. Insgesamt gaben 41 Prozent der befragten Männer und aber 60 Prozent der befragten Frauen an, sich in Deutschland nicht mehr sicher zu fühlen.13
Kriminalitätsfurcht wird in Deutschland ein Thema bleiben. Die Menschen erkennen, dass Gewalt und Terror zu jeder Zeit möglich und nicht nur auf den urbanen Raum beschränkt sind. Zudem erleben sie die Regierung als die politisch verantwortliche Führung im Land nicht als handlungsfähig. Der Terroranschlag von Berlin erschütterte zudem das Vertrauen der Menschen in die Sicherheitsbehörden und in Deutschland als Rechtsstaat. Das Unverständnis darüber, dass den Bürgern umfassende Meldepflichten auferlegt sind, sich jedoch der Terrorist Anis Amri mit sage und schreibe 14 Identitäten und trotz der Einschätzung als sog. „Gefährder“ ungehindert durch das Land und nach dem Anschlag bis nach Italien bewegen konnte, ist dem entsprechend. Einfache Durchhalteparolen oder auch das Absprechen empfundener Furcht fangen die Angst nicht mehr auf. Egal wie irrational die Angst vor einem Terroranschlag angesichts statistischer Werte sein mag: Es geht um die Verletzung des persönlichen Sicherheitsempfindens. Und das birgt angesichts populistischer Stimmungsmache in allen politischen Lagern durch Bestärken oder Verunglimpfen dieser Angst definitiv ein gesellschaftliches Gefährdungspotential. Doch können Erklärungen und Gegenmaßnahmen nie einfach und allgemein gültig sein. Zufriedenstellende, schnelle Antworten auf berechtigte Fragen und das Entsetzen solcher Taten gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Die unterschiedlichen und individuellen Hintergründe der Täter und ihre Vorgehensweise von Würzburg und München, aber auch Nizza oder beispielsweise dem barbarischen Mord in Saint-Etienne-du-Rouvray14 oder in Magnanville15 machen es zudem komplizierter, für die Zukunft die richtigen Lehren daraus zu ziehen und wirksame Präventionskonzepte zu erarbeiten, die in der Breite anwendbar sind.

Fazit


Egal, um welche Form von exzessiver Gewalt im öffentlichen Raum es sich handelt, ihnen allen gemein ist der intensive Schrecken und die Unsicherheit in der Bevölkerung, die sie hinterlassen. Taten, die mit dem Suizid der Täter enden, wie bei Selbstmordattentaten und häufig auch bei Amokläufen oder regelrechten „Himmelfahrtskommandos“, bei der die Angreifer davon ausgehen, von der Polizei erschossen zu werden, bzw. dies gezielt durch Angriffe provozieren (u.U. qua „suicide by cop“) erzeugen zudem Ratlosigkeit. Die Jenseitsvorstellungen dieser Täter reichen zum Verständnis einfach nicht aus. Diese Ratlosigkeit führt häufig zu der allgemeinen Feststellung, dass die Täter psychisch nicht gesund gewesen sein können. Sobald wir an die Grenzen dessen kommen, was an menschlichem Verhalten nachvollziehbar ist, liegt die Unterstellung einer psychischen Disposition jenseits der Toleranzen des Normalen nahe. Doch die Täterlogik muss nicht zwangsläufig von jedem nachvollzogen werden können. Gerade die Terroristen orientieren sich an Handlungsmaximen, die in der Perspektive asymmetrischer Kriegstaktiken äußerst sinnvoll, nutzbringend und clever sind, auch wenn dabei das eigene Leben als Mittel eingesetzt und im Endeffekt geopfert wird. Je nachdem, wie die Täter den Wert ihres Lebens in Relation zum Ergebnis ihrer Tat bewerten, ist die Abwägung zu Ungunsten des eigenen Lebens durchaus rational nachvollziehbar. Die schnelle Erklärung des terroristischen Einzeltäters als durch Traumata psychisch erkrankten, irrationalen Lebensmüden greift somit häufig zu kurz und hat besitzt außer einer gewissen Bequemlichkeit wenig wissenschaftlich Verwertbares.

Literaturverzeichnis:

  1. Adler, Lothar: Amok – Eine Studie, München 2000.
  2. Dienstbühl , Dorothee / Weber, Meike: Radikalisierung per E-Learning. Das Internet als islamistisches Rekrutierungsmedium, in: Kriminalistik 3/2015, S. 167–172.
  3. Lübbert, Monika: Amok. Der Lauf der Männlichkeit, Frankfurt am Main 2002.
  4. Wirth, Ingo (Hrsg.): Kriminalistisches Lexikon, Heidelberg 2011.

Anmerkungen

  1. Ausschlaggebend sei der aggressive Bewegungsdrang, der sich je nach Wahl der eingesetzten Waffe, die Typisierung bestimmt (Amokschütze / Amokfahrer), vgl. Wirth 2011, S. 21.
  2. Amok wird im DSM-IV in den Rubriken Dissoziative Störungen und Störungen der Impulskontrolle aufgeführt, im Glossar kulturabhängiger Syndrome wird Amok als „eine dissoziative Episode, die durch eine Periode des Grübelns charakterisiert ist, auf die ein Ausbruch gewalttätigen, aggressiven oder menschengefährdenden Verhaltens folgt, das sich auf Personen und Objekte richtet“ definiert. Ähnlich sieht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Amok als kulturspezifische psychische Störung. Im Gegensatz zum DSM-IV empfiehlt das ICD-10 die Einordnung des Amoks in das bestehende System unter Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. Amok wird im Anhang II zum ICD-10 (Forschung und Praxis) für Indonesien und Malaysia aufgeführt und wie folgt beschrieben: „Eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich destruktiven Verhaltens, gefolgt von Amnesie oder Erschöpfung. Viele Episoden gipfeln im Suizid“.
  3. Monika Lübbert kommt beispielsweise in einer eigenen Untersuchung auf 8% Amoktäter, mit psychischen Auffälligkeiten, vgl. Lübbert 2002, S. 66; Lother Adler kommt in einer zu vorigen Studie auf einen Anteil von 68% Amokläufer, bei denen eine psychische Krankheit vorliegt, vgl. Adler 2000, S. 429.
  4. Zusammengefasste Ergebnisse vgl. Lübbert 2002, S. 36 ff.
  5. Spiegel-Online vom 30.10.2016 (ohne Autorenangabe), online verfügbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/is-reklamiert-messerattacke-in-hamburg-fuer-sich-a-1118884.html (letzter Aufruf am 14.12.2016).
  6. Vgl. Focus-Online (ohne Autorenangabe): Angriff in Aschaffenburg - Messerangriff von Radfahrer: Täter flüchtig 16.09.2016 vom www.focus.de/regional/bayern/aschaffenburg-polizei-aschaffenburg-messerangriff-von-radfahrer-taeter-fluechtig_id_5947134.htmlhttp://www.focus.de/regional/bayern/aschaffenburg-polizei-aschaffenburg-messerangriff-von-radfahrer-taeter-fluechtig_id_5947134.html (letzter Zugriff am 14.12.2016).
  7. Der damals 21-jährige Arid Uka erschoss am 2. März 2011 am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten und verletzte zwei weitere schwer. Uka soll sich maßgeblich im Internet radikalisiert haben. Zur Analyse des Gewichtes von Propaganda im Internet auf den Radikalisierungsprozess, vgl. Dienstbühl / Weber, in: Kriminalistik 3/2015, S. 167–172.
  8. Vgl. Degen, M., Reportage im Deutschlandfunk vom 20.04.2014 zum Nachlesen online verfügbar unter: www.deutschlandfunk.de/amok-teil-1-taeterprofile.740.de.html?dram:article_id=283256 (letzter Zugriff am 13.12.2016).
  9. Deutliche Worte fand Ahmad Mansour in seinem Beitrag auf Welt-Online vom 27. Juli 2016: „Wer von Turbo-Radikalisierung spricht, hat null Ahnung“, online verfügbar unter: www.welt.de/debatte/kommentare/article157254727/Wer-von-Turboradikalisierung-redet-hat-null-Ahnung.html (letzter Zugriff am 15. Dezember 2016).
  10. Vgl. Zeit-Online vom 22.07.2016 (ohne autorenangabe): Umfrage: Angst der Deutschen vor Terror wächst, online verfügbar unter: www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-07/umfrage-deutschland-terror-angst-anschlaege-infratest-dimap (letzter Zugriff am 14.12.2016).
  11. Vgl. Stuttgarter Nachrichten: Anklage: Täter wollte „Ungläubige“ töten vom 27.09.2016, online verfügbar unter: www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.mord-in-bad-friedrichshall-anklage-taeter-wollte-unglaeubige-toeten.551057ee-220e-4c64-9c03-ed7a994a3e6d.html (letzter Zugriff am 11.01.2017).
  12. Oder im Ausland auf deutsche Einrichtungen, vgl. den Anschlag der Taliban im afghanischen Mazar-e-Sharif auf das deutsche Generalkonsulat am 10.11.2016, bei dem fünf Personen und drei Angreifer getötet wurden.
  13. Vgl. Köcher, in FAZ Online vom , online verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/politik/inland/allensbach-umfrage-zeigt-angst-um-innere-sicherheit-steigt-14073805.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (letzter Zugriff am 14.12.2016).
  14. Am 26. Juli 2016 wurde ein französischer Priester in der Kirche am helllichten Tag durch Islamisten ermordet.
  15. Am 13. Juni 2016 wurden ein Polizist und dessen Frau vor den Augen ihres Kindes durch Islamisten ermordet.