Kriminalitätsbekämpfung

Medizinische und befundsichernde Akutversorgung nach Vergewaltigung – ohne vorausgegangene Anzeige

Von PD. Dr. H. Lilly Graß, Akademie für öffentliches Gesundheitswesen Düsseldorf/Institut für Rechtsmedizin Düsseldorf
Angela Wagner, Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt am Main

Seit 2013 haben Opfer von Sexualstraftätern in Frankfurt am Main die Möglichkeit, sich vorsorglich zur Beweissicherung untersuchen zu lassen, ohne dass die Polizei automatisch eingeschaltet wird. Auf Wunsch der Frauen sichern die Kliniken in Verbindung mit einer medizinischen Versorgung etwaige Befunde und Spurenmaterial (z.B. Abstriche, Blutproben). Diese Beweismittel werden zunächst für ein Jahr im Institut für Rechtsmedizin verwahrt.
Einige Opfer sexualisierter Gewalt sind nach der Tat noch unsicher, ob sie Strafanzeige erstatten und sich an der strafrechtlichen Aufklärung beteiligen wollen. Hatten sie sich in der Vergangenheit erst nach einer Bedenkzeit zur Strafanzeige durchgerungen, waren oft die objektiven Beweismittel bereits unwiderruflich verloren. Dies soll das neu konzipierte Frankfurter Modell verhindern. Die Opfer erhalten nun eine Bedenkzeit, ohne dass damit ein Beweismittelverlust verbunden ist.
Möglich machte dies ein Beschluss der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung im September 2011. Dieser hatte das Ziel, die medizinische und psychosoziale Versorgung und Beratung von Frauen und Mädchen, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, signifikant zu verbessern. An dem neu konzipierten Frankfurter Verbund-Modell beteiligen sich Akteure aus sozialen, juristischen und medizinischen Arbeitsfeldern: engagierte ÄrztInnen und RechtsmedizinerInnen, sieben Frankfurter Kliniken, das Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt der Goethe-Universität, das Frauenreferat, das Amt für Gesundheit, das Jugend- und Sozialamt, das Hessische Ministerium für Soziales und Integration, die Landesärztekammer und die Werbeagentur Y&R. Von Beginn an wurden sowohl die Kriminalpolizei als auch die Frankfurter Staatsanwaltschaft in die Planungen des Projektes einbezogen.
Zielsetzung des bundesweit einmaligen Modells der Stadt Frankfurt ist es, dass alle Betroffenen nach einer Vergewaltigung schnellen Zugang zur bestmöglichen medizinischen Versorgung erhalten sollen – unabhängig davon, ob sie Anzeige erstatten oder nicht.

Unterschiedliche Vorgehensweisen nach einem Sexualdelikt

Anzeige wird erstattet. Das medizinische und befundsichernde Vorgehen nach einer angezeigten Vergewaltigung ist bundesweit weitgehend standardisiert geregelt. Die zuständige Kriminalpolizei bringt die Frau in ein Krankenhaus, mit dem eine vertragliche Regelung für diese Untersuchungen besteht. Zudem beauftragt und finanziert sie die notwendigen Untersuchungen sowie die Spurensicherung. Sie steuert den Ablauf und erleichtert so das Prozedere sowohl für die betroffenen Frauen als auch für die Krankenhäuser.
Anzeige momentan nicht erwünscht. Die medizinische Versorgung und eine eventuelle Sicherung von Spuren werden jedoch in Erwägung gezogen. Aus der Arbeit der Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt ist bekannt, dass für viele vergewaltigte Frauen eine Anzeigeerstattung nach einer Vergewaltigung zunächst, oder sogar generell, nicht in Betracht kommt. Viele Frauen fühlen sich direkt nach der Tat nicht dazu in der Lage, eine Entscheidung für oder gegen eine Anzeige zu treffen. Diese Frauen gehen nicht zur Polizei. Sie gehen auch nur höchst selten in ein Krankenhaus oder in eine gynäkologische Praxis. Denn oft befürchten sie, dass Dritte eine Anzeige über ihren Kopf hinweg erstatten könnten.
Betroffene Frauen finden oftmals keinen Zugang zum medizinischen und psychosozialen Hilfesystem und bleiben deshalb unversorgt. Auch Befunde (im Sinne einer rechtsverwertbaren Spurensicherung) für eine rückwirkende Anzeige können so nicht erhoben werden. Leider werden auch immer wieder Fälle bekannt, in denen Frauen aufgrund der fehlenden Versorgungsstruktur im Krankenhaus oder aus Unkenntnis (medizinische Versorgung inkl. mögliche Spurensicherung am Körper ginge nur im Kontext mit einer Strafanzeige) nicht behandelt und gar abgewiesen wurden.


Hessenkit der Firma Prionics


An dieser Ausgangslage setzt das Frankfurter Modell ein. Ziel des Projektes ist der Ausbau der medizinischen Versorgungsstruktur für betroffene Frauen und Mädchen in Frankfurt am Main, die (noch) keine Anzeige erstatten möchten. Bis heute konnte die Akutversorgung in sieben Frankfurter Kliniken implementiert werden. Betroffene finden dort kompetente und geschulte AnsprechpartnerInnen, die eine medizinische Versorgung gewährleisten und auf Wunsch Befunde sichern. Das Vorgehen ist standardisiert und transparent.
In der Vergangenheit hatte es sich als Problem erwiesen, Krankenhäuser vor Ort für eine Spuren- und Befundsicherung (ohne vorangegangene Anzeige) zu gewinnen. Dem konnte mit der Ansprache über die medizinische Versorgung („Vergewaltigung ist ein medizinischer Notfall. Im Krankenhaus erhalten Sie Hilfe.“) und einem Qualifizierungsangebot mit Inhouse-Schulungen, zentralen jährlichen Fortbildungen, Schulungs- sowie Spurensicherungsmaterialien begegnet werden.
Vorgehensweise im Frankfurter Modell. Die Frauen nehmen Kontakt mit einem der am Modell beteiligten Krankenhäuser auf (gelistet unter www.soforthilfe-nach-vergewaltigung.de). Sie suchen die Klinik nach ihren persönlichen Kriterien aus (z.B. Wohnortnähe, gute Erfahrungen, Empfehlung etc.). Im Gespräch über das Geschehene kann sich die Ärztin/der Arzt einen Überblick über mögliche Verletzungen und körperliche sowie psychische Folgen verschaffen, entsprechend betreuen und medizinisch im Sinne einer Akutbehandlung versorgen. Im Anschluss an die Untersuchung wird die Frau an niedergelassene Fachpraxen und Unterstützungseinrichtungen überwiesen.
Vertrauliche Befundsicherung. Im Gespräch mit der Ärztin/dem Arzt wird allen Frauen angeboten, dass Spuren (z.B. Blut oder Urin, Abstriche für mögliche DNA-Untersuchungen) gesichert werden können. Jede Frau entscheidet selbst, ob sie dies möchte oder nicht. Dieser Wunsch wird respektiert und sie wird entsprechend untersucht. Eine grundlegende Maxime des Modells ist, dass die Frauen zu nichts überredet werden: weder zu bestimmten Untersuchungen noch zu einer Spuren- und Befundsicherung, eine Anzeige zu erstatten oder eine Beratungsstelle aufzusuchen. Es gilt, ihren Willen wieder zu stärken und nicht erneut, wie in der Situation der Vergewaltigung, zu übergehen – auch wenn es im Einzelfall durchaus schwer sein kann, diese Entscheidung von außen zu akzeptieren.
Zur Befundsicherung steht die „Befundhilfe“ (Leitfaden für Anamnese, Untersuchung, Dokumentation und Spurensicherung) zur Verfügung, die 2007 mit einer Expertengruppe, bestehend aus VertreterInnen von Rechtsmedizin, Ärzteschaft, Staatsanwaltschaft, Polizei, Rechtsanwaltschaft und Beratungsstellen, erstellt wurde. Sie trägt aktuellen juristischen, rechtsmedizinischen, medizinischen und psychologischen Erfordernissen Rechnung, ohne die Belange nur einer Profession in den Mittelpunkt zu stellen. Dieses Instrument bildet in Verbindung mit einem Spurensicherungsset die Basis für die notfallmäßige Betreuung.

DIE BEFUNDHILFE ZIELT PRIMÄR AUF:

  • sorgfältige medizinische Untersuchung und ggf. Behandlung von Verletzungsfolgen sowie qualifizierte gerichtsverwertbare Dokumentation von Verletzungen, einschließlich Spurensicherung;
  • Erleichterung und Optimierung der Arbeit der untersuchenden Ärztinnen und Ärzte, indem der Dokumentationsbogen ihre Kompetenz für diese spezielle Untersuchungssituation um rechtsmedizinisches Wissen ergänzt;
  • optimale Ausformulierung der medizinischen Befunderhebung, wenn nach einer späteren Strafanzeige ein ärztliches Gutachten von der Ermittlungsbehörde angefordert wird;
  • umfangreiche Befundung: Mit dieser ist die durchführende Ärztin/der durchführende Arzt auch für den Fall der späteren Ladung vor Gericht adäquat vorbereitet.


Die Verwendung der Befundhilfe ist in Hessen und einigen anderen Bundesländern implementiert. Sie wird in einer Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie empfohlen und wurde 2012 in das Qualitätsmanual der Bundesärztekammer und Kassenärztlichen Bundesvereinigung aufgenommen.

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