Rechtssprechung

Strafrechtliche Recht­sprechungsübersicht

§ 113 StGB – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte; hier: Flucht vor der Polizei als Widerstand. §§ 211, 212, 22, 23 §§ 223, 224 Abs. 1 Nrn. 2, 4, 5 StGB, § 261 StPO – Bedingter Tötungsvorsatz; hier: Tatrichterliche Beweiswürdigung bei objektiv besonders gefährlichen Gewalttaten im Falle von wuchtigen Fußtritten gegen den Kopf des Opfers durch „fußballerisch erfahrene Täter“. (...)

Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur., Polizeiakademie Hessen


Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist. 

I. Materielles Strafrecht

§ 113 StGB – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte; hier: Flucht vor der Polizei als Widerstand. Der erheblich alkoholisierte, absolut fahruntüchtige Angeklagte (A.), der nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis war fuhr mit einem Pkw, für den kein Haftpflichtversicherungsschutz bestand auf öffentlichen Straßen in Eisleben. Einer polizeilichen Verkehrskontrolle versuchte er sich dadurch zu entziehen, dass er wendete und mit hoher Geschwindigkeit (bis zu 180 km/h) flüchtete. Dabei beging er, verfolgt durch die Polizei, zahlreiche Verstöße bis er schließlich in voller Fahrt „aus Alternativenmangel“ mit einem zur Fahrbahn quer gestellten Streifenwagen kollidierte. Dabei erlitt einer der beiden in dem Fahrzeug befindlichen Polizeibeamten eine Knieprellung, Hautabschürfungen im Stirnbereich sowie ein Schädel-Hirntrauma ersten Grades. Das Tatgeschehen wurde unter anderem als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB gewertet, da die waghalsige Fahrt dazu gedient habe, „sich der Polizeikontrolle zu entziehen“. Dies sieht der BGH anders.
Unter Widerstand ist eine aktive Tätigkeit gegenüber dem Vollstreckungsbeamten zu verstehen, mit der die Durchführung einer Vollstreckungsmaßnahme verhindert oder erschwert werden soll. Die Tat muss demgemäß Nötigungscharakter haben. Allerdings wird ein effektiver Nötigungserfolg nicht vorausgesetzt. „Mit Gewalt“ wird Widerstand geleistet, wenn unter Einsatz materieller Zwangsmittel, vor allem körperlicher Kraft, ein tätiges Handeln gegen die Person des Vollstreckenden erfolgt, das geeignet ist, die Vollendung der Diensthandlung zumindest zu erschweren. Die bloße Flucht vor der Polizei erfüllt diese Voraussetzungen nicht, auch wenn dabei andere Verkehrsteilnehmer behindert oder gefährdet werden. Da der A. die ihn verfolgenden Polizeibeamten mit seinem Kraftfahrzeug weder abgedrängt noch am Überholen gehindert hat und auch nicht auf die Polizeibeamten zugefahren ist, um diese zum Wegfahren und damit zur Freigabe der Fahrbahn zu nötigen, fehlt bereits die für den äußeren Tatbestand erforderliche gewaltsame, gegen die Person des Vollstreckenden gerichtete Handlung. (BGH, Beschl. v. 19.12.2012 – 4 StR 497/12)


§ 184b Abs. 2, 4 StGB – Besitzverschaffen von kinderpornographischen Schriften; hier: E-Mail mit der verbalen Schilderung eines sexuellen Missbrauchs als kinderpornographische Schrift. Der Angeklagte (A.) tauschte im Zeitraum von August 2010 bis August 2011 wiederholt kinder- und jugendpornographisches Material per E-Mail mit anderen Internetnutzern aus. In diesem Zeitraum versandte er Videos mit jugend- und mit kinderpornographischen Inhalten an andere Nutzer. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt erhielt der A. auf eigene Aufforderung von dem Mitangeklagten H. zwei kinderpornographische Nacktfotos von dessen fünfjährigem Sohn per E-Mail übersandt. Er speicherte diese Bilder auf seinem Computer ab. In einer E-Mail an H. beschrieb der A., wie er an dem entblößten Penis des dreijährigen Sohnes eines Freundes manipuliert habe, bis dieser erigiert sei, und wie zunächst er an dem Kind und sodann das Kind an ihm den Oralverkehr ausgeführt habe. Bei einer im August 2011 durchgeführten Durchsuchung der Wohnung des A. wurden auf diversen Speichermedien insgesamt 812 Bilder und 208 Videos mit kinderpornographischen Inhalten aufgefunden, die er dort wissentlich und willentlich aufbewahrt hatte.

Der BGH bestätigte eine Verurteilung wegen verschiedener Delikte der Besitzverschaffung, des Sichverschaffens und des Besitzes von kinder- und jugendpornographischen Schriften. Der Versand des genannten Textes sei jedoch nicht als Besitzverschaffen einer kinderpornographischen Schrift im Sinne des § 184b Abs. 2 StGB zu bestrafen, sondern tatbestandslos. Festgestellt wurde bei der Entscheidungsbegründung noch einmal, dass es bei der Versendung von E-Mails in Datennetzen für die Besitzverschaffung genügt, dass die elektronischen Nachrichten – wenn auch nur vorübergehend – in den Arbeitsspeicher beim Empfänger gelangen. Den in § 184b Abs. 2 StGB genannten Schriften stehen Datenspeicher gleich. Als inkriminierte Inhalte kinderpornographischer „Schriften“ kommen grundsätzlich auch Darstellungen in Betracht, in denen der sexuelle Missbrauch von Kindern nur mit Worten beschrieben wird, denn der Bundesgesetzgeber hat für § 184b StGB am weiter gehenden Schriftenbegriff festgehalten. Jedoch fehle es bei solchen Darstellungen an der von § 184b Abs. 2 StGB einschränkend vorausgesetzten Wiedergabe eines „tatsächlichen“ oder jedenfalls „wirklichkeitsnahen“ Geschehens. Der BGH begründet diese Interpretation der Vorschrift damit, kinderpornographische „Schriften“ einem absoluten Verbreitungsverbot zu unterwerfen, die auf einem realen Missbrauchsgeschehen beruhen; es soll auf diese Weise der weiteren Heranziehung von Kindern als „Darstellern“ solcher Produktionen entgegengewirkt werden. Zudem wird die „erhöhte Gefährlichkeit“ angeführt, die von Darstellungen mit Bild und Ton ausgehe und deshalb die Kriminalisierung schon der Besitzverschaffung (Abs. 2) und des Sichverschaffens bzw. Besitzens (Abs. 4) rechtfertige. Bei „nur“ verbalen Schilderungen sei regelmäßig kein vergleichbarer Anreiz für Konsumenten zu befürchten, „solches Geschehen selbst mit Kindern zu wiederholen“. Verbale Schilderungen seien gerade nicht auf eine reale Vorlage angewiesen. (BGH, Beschl. v. 19.03.2013 – 1 StR 8/13)


§§ 211, 212, 22, 23 §§ 223, 224 Abs. 1 Nrn. 2, 4, 5 StGB, § 261 StPO – Bedingter Tötungsvorsatz; hier: Tatrichterliche Beweiswürdigung bei objektiv besonders gefährlichen Gewalttaten im Falle von wuchtigen Fußtritten gegen den Kopf des Opfers durch „fußballerisch erfahrene Täter“. Am Morgen des 17. September 2011 kam es in der Nähe einer Diskothek zwischen verschiedenen erheblich alkoholisierten Personen zunächst zu verbalen Konflikt mit gegenseitigen Beleidigungen. Während eines Gerangels versetzte der Angeklagte (D.) dem Geschädigten (P.) zwei bis drei gezielte heftige Faustschläge in das Gesicht, wodurch dieser zu Boden ging. D. beugte sich sodann herunter und schlug mit der Faust auf den Oberkörper oder in das Gesicht des P., wobei dieser versuchte, sich durch seine Hände und Arme vor der Wucht der Schläge zu schützen. Der Angeklagte (G.), ohne selbst bisher einzugreifen, kam hinzu, als der P. bereits am Boden lag, um mit seinem Freund D. gemeinsam auf den P. einzuwirken. Der G. trat aus dem Lauf heraus mit der Innenseite seines mit Straßenturnschuhen beschuhten linken Fußes wuchtig gegen den Kopf des P. In schneller Abfolge folgten weitere ausgeführte vier bis fünf weitere Tritte in das Gesicht des am Boden Liegenden. Der D., der leichte Straßenturnschuhe trug, nahm dies wahr, billigte das Vorgehen seines Freundes G. und trat nunmehr ebenfalls zwei- bis dreimal heftig auf das sich nicht mehr wehrende Opfer ein. Die Tritte gingen auch gezielt auf den Kopf des Opfers. Sie waren wuchtig und potentiell lebensbedrohlich, ohne dass es allerdings zu einer konkreten Lebensgefahr kam. Schließlich ließen D. und G. von P. ab und lief davon. Infolge der Gewalteinwirkung erlitt P. verschiedene Frakturen und verlor insgesamt drei Zähne. Neben einem Krankenhausaufenthalt litt er auch danach noch länger in erheblichen Umfang an den psychischen Folgen der Tat, die auch zum Verlust seines Arbeitsplatzes führten. 

Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fern liegend erkennt, weiter, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung zumindest abfindet. Vor Annahme eines bedingten Vorsatzes müssen beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Wissens- als auch das Willenselement, umfassend geprüft und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände des Einzelfalles, in welche vor allem die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung, die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen sind. Gleichermaßen allein Sache des Tatrichters ist es, die Bedeutung und das Gewicht der einzelnen Indizien in der Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses zu bewerten. Beispielsweise obliegen die Einordnung und Würdigung einer erheblichen Alkoholisierung und eines spontanen Handelns in affektiver Erregung dem Gericht. Genauso wie die Würdigung, es könne trotz der Heftigkeit der Tritte nicht ausgeschlossen werden, dass die fußballerisch erfahrenen Angeklagten nicht mit der ihnen möglichen vollen Wucht auf den Kopf des Opfers eintraten. Im Ergebnis sah das Gericht unter anderem wegen dieser Umstände keinen bedingter Tötungsvorsatz bei den Angeklagten. (BGH, Beschl. v. 16.05.2013 – 3 StR 45/13)

II. Prozessuales Strafrecht


§ 100g StPO, § 145d StGB – Erhebung von Telekommunikations-Verkehrsdaten; hier: Anordnung der Erhebung bei Verdacht des Vortäuschens einer Straftat. Ein Bürgermeister war verdächtig im Zusammenhang mit dem Amt darüber getäuscht zu haben, Opfer eines Brandanschlages im Rathaus geworden zu sein, um dadurch zur Aufgabe seines Amtes genötigt zu werden. Zum Zeitpunkt der Abhörmaßnahmenanordnung war als Motiv die Erlangung von wirtschaftlichen Vorteilen durch die Anerkennung als Dienstunfall zu sehen und folglich eine Schädigung des Ansehens der betroffenen Gemeinde zu erwarten. Das durch die Tat hervorgerufene öffentliche Aufsehen war groß.
Die Voraussetzungen der Anordnung einer Maßnahme nach § 100g StPO liegen auch bei Verdacht des Vortäuschens einer Straftat im Sinne des § 145d StGB vor, da auch diese Straftat im Einzelfall erhebliche Bedeutung aufweisen kann. Eine Straftat hat „erhebliche Bedeutung“, wenn sie mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Dies setzt voraus, dass der Gesetzgeber der Straftat allgemein ein besonderes Gewicht beimisst und sie im konkreten Fall erhebliche Bedeutung hat. Eine Tat gemäß § 145d StGB ist im Höchstmaß mit drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht. Sie ist deshalb nicht mehr ohne weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen, aber im Hinblick auf die gegenüber der gesetzlich vorgesehenen Mindesthöchststrafe erhöhte Strafdrohung als Anlasstat nicht von vornherein ausgeschlossen. In Einzelfällen kann auch solchen Taten aufgrund der besonderen Bedeutung des geschützten Rechtsguts oder des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung erhebliche Bedeutung zukommen. (BGH, Beschl. v. 07.08.2013 – 1 StR 156/13)

§ 252 StPO – Verbot der Protokollverlesung nach Zeugnisverweigerung; hier: Verwertungsverbot für eine während der polizeilichen Vernehmung freiwillig übergebene Tonbandaufzeichnung bei Zeugnisverweigerung in der Hauptverhandlung. Der Angeklagte C., der für 80.000 DM gewonnen werden konnte, lauerte in den frühen Morgenstunden des 20. April 1993 dem Vater der Angeklagten F., der sich zu diesem Zeitpunkt keines Angriffs versah, auf dessen Arbeitsweg auf und erschoss diesen aus unmittelbarer Nähe mit einer Selbstladepistole (Kaliber .45 Auto) mit aufgesetztem Schalldämpfer. Am 16. November 1993 war ein Bruder der F., der Zeuge Cu., bei der Polizei erschienen, hatte Angaben gemacht und unter anderem eine Kassette mit belastendem Material übergeben.
Macht ein Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, erstreckt sich das Verwertungsverbot des § 252 StPO auch auf eine Tonbandaufzeichnung, die er bei seiner polizeilichen Vernehmung übergeben und auf die er sich bezogen hat. Denn das übergebene Tonband ist Teil der Vernehmung, auf die sich das Verwertungsverbot bezieht. Eine Verwertbarkeit der Tonbandaufnahme ergibt sich auch nicht daraus, dass diese spontan, aus eigener Initiative des Zeugen und ohne gezielte Nachfrage der Ermittlungsbeamten entstanden ist. (BGH, Beschl. v. 23.10.2012 – 1 StR 137/12)