Kriminalität

Das Kaukasus-Emirat:

Eine neue Gefahrenquelle für Europa?

Von Dr. Michail Logvinov, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden

Im Zusammenhang mit dem Anschlag auf den Bostoner Marathon vom 15. April 2013 warnte der deutsche Verfassungsschutz vor Anhängern des so genannten Kaukasus-Emirates (KE) in Deutschland. Obwohl es unmittelbar nach den Explosionen hieß, es gebe keine direkte Verbindungslinie zum Nordkaukasus, rückten 200 mutmaßliche Unterstützer der Organisation in den Fokus deutscher Ermittler. Grundsätzlich kann jedoch ein Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden. Dabei ist weder das KE eine neue Dschihad-Front noch fehlte es früher an sicherheitsrelevanten Entwicklungen in Europa wie Deutschland. 


 Einer der Ableger der Organisation in Dagestan reagierte im Anschluss an die Bostoner Anschläge mit einem Statement und behauptete, das KE kämpfe nicht gegen die USA. Gilt es womöglich auch für Europa und Deutschland? Daher sind mit Blick auf das KE einige Fragen zu beantworten: Welche Ziele verfolgt das Netzwerk? Welche Ideologie prägt seine Kämpfer? Wie kam es dazu, dass aus „Freiheitskämpfern“ und „Separatisten“ hartgesottene Dschihadisten mit überregionalen Ambitionen geworden sind? Verfolgen die regionalen Akteure auch weiterhin das Ziel, möglichst viele Zivilisten in Mitleidenschaft zu ziehen? Welche Gefahren drohen durch die Ausbreitung des Netzwerks über die regionalen Grenzen hinweg? 

Nordkaukasischer Dschihad als weißer Fleck der Sicherheitsforschung



Durch den Bombenanschlag auf den Moskauer Flughafen Domodedowo am 24. Januar 2011 und die jüngsten Anschläge in Boston rückte das Kaukasus-Emirat in den Fokus der Berichterstattung über den Islamismus im Nordkaukasus. Über das von Doku Umarow alias Abu Usman aus der Taufe gehobene Emirat liegen in Deutschland allerdings nur wenige wissenschaftliche Abhandlungen vor. Das liegt unter anderem darin begründet, dass sich in der Literatur zum Nordkaukasus Erklärungsschablonen etabliert haben, die einseitig entweder den islamistischen Akteuren oder den staatlichen russischen Geheimdiensten die Schuld zuweisen. Andere Erklärungsfaktoren werden dabei oft ausgeblendet.1 Innerhalb der Forschergemeinde ist so ein Riss in der Auseinandersetzung mit diesem regionalen Akteur entstanden. Während beispielsweise die russische Politik und Politologie bis vor kurzem primär transnationale terroristische Netzwerke für die Destabilisierung des Nordkaukasus verantwortlich machte, hebt die deutsche akademische Forschung vor allem den so genannten Co-Terrorismus in Russland hervor. Die islamistischen Akteure sowie ihre Ideologien und Motivationen fanden dabei nur selten Erwähnung. Auch wird die Rolle des fundamentalistischen Islam im tschetschenischen Unabhängigkeitskampf grob unterschätzt.2 Es ist daher im Folgenden zu fragen, welche Rolle dem Islamismus im Allgemeinen und der Ideologie des KE im Besonderen im nordkaukasischen Aufstand gegen die russischen Truppen zukommt. Im Fokus stehen dabei die Einflussnahme des KE auf dschihadistische Radikalisierungsprozesse sowie seine Etablierung als Identitätsplattform für die junge islamische Anhängerschaft.

Nordkaukasischer Aufstand auf dem Weg zum Emirat


Im Oktober 2007 hat sich der islamistische Widerstand in einem islamischen „Staat“, der weit über die Grenzen der einzelnen Republiken hinausreicht, neu formiert. Seitdem führt der Tschetschene Doku Umarow das „Emirat“ an, das zugleich als eine pankaukasische Dschihad-Front firmiert. Es ist für die Mehrheit der Anschläge in Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien, aber auch in Kernrussland verantwortlich. 
Als prägende historische Kraft im Kampf der nordkaukasischen Völker gegen die russischen Truppen kam dem Islam schon von jeher eine besondere Rolle zu. Im ersten Tschetschenien-Krieg diente er als wichtiger Mobilisierungsmechanismus für den Unabhängigkeitskampf. Ganz entscheidend war die Instrumentalisierung des Islam durch die Hauptakteure des Konflikts. Der damalige tschetschenische Präsident Dschohar Dudajew nutzte den Islam für eine nationalistische Mobilisierungskampagne. Sein islamistischer Tandempartner, Schamil Basajew, setzte sich für die islamische Agenda ein. Beiden gelang damit die Quadratur des Kreises: nationalistische Propaganda und islamistische Agenda standen vereint im Kampf gegen Moskaus Armee.3 Weder die nationalistischen Akteure noch die islamistischen „Wölfe“ kamen sich gegenseitig in die Quere – ein Zustand, der im so genannten zweiten Tschetschenien-Krieg nicht mehr möglich war. Denn in der Zwischenkriegszeit entbrannte ein Wettbewerb zwischen den tschetschenischen Nationalisten um Präsident Aslan Maschadow und dem salafistischen Projekt von Basajew und seinen arabischen Mitstreitern. Beide Lager konkurrierten um die Macht und Deutungshoheit.4 


Bild 1: „Die Löwen Tschetscheniens“: prominente Gesichter des nordkaukasischen Aufstandes

Aus dem Ringen um ideologische Führerschaft ging der dschihadistisch-salafistische Flügel als Sieger hervor. Die nationalen Säkularisten um Maschadow wurden zunehmend isoliert. In der Folgezeit ging die Auseinandersetzung zwischen den beiden „brüderlichen“ Aufstandsparteien weiter. 2002 billigte das Verteidigungskomitee Itschkeriens eine Verfassungsänderung, der zufolge Tschetschenien zu einem islamischen Staat erklärt wurde, der seine Gesetzgebung vom Koran und der Sunna ableitete. Die Islamisten hegten dabei laut Selbstbekenntnis die Hoffnung auf einen Friedensvertrag mit Moskau, weshalb sie den Präsidenten tolerierten. Die im Frühling 2005 geschaffene „Kaukasus-Front“ diente dann als Vorstufe auf dem Weg zum KE. In diesem Jahr gelang es den Aufständischen, die inneren Konflikte vorerst zu schlichten und sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen.

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