Kriminalität

Was eigentlich ist die Scharia?

– Grundzüge des Rechts und der Kultur des Islam

Von Dr. Marwan Abou-Taam, LKA Rheinland-Pfalz und Dr. Parinas Parhisi (HMdJIE)

Grundzüge des islamischen Rechts


Die islamische Rechtswissenschaft wird häufig als arab. fiqh bezeichnet. Als islamisches Lebens- bzw. Weltkonzept ist fiqh jedoch eine umfassende Wissenschaft, die sich u.?a. rechtlicher Fragestellungen annimmt, im Übrigen aber die Gesamtheit religiöser und rechtlicher Handlungen bestimmt. Wenn in diesem Seminar fiqh zur sprachlichen Vereinfachung als islamische Rechtswissenschaft bezeichnet wird, so geschieht dies in dem Bewusstsein, dass damit nur ein Ausschnitt des islamischen Rechtssystems gemeint ist. Das islamische Recht stellt im Übrigen kein einheitlich kodifiziertes Rechtssystem dar.

Im Rahmen dieser Abhandlung wird zunächst kurz auf rechtsgeschichtliche Aspekte eingegangen, indem die Entstehung der Rechtsschulen dargestellt wird. Der primäre Fokus der folgenden Erörterungen liegt sodann auf Rechtsquellen und Auslegungsmethoden.

1. Die Spaltung der Muslime und die Entstehung der Rechtsschulen


Der Ausgangspunkt für die konfessionelle Spaltung, die zur Entstehung schiitischer Rechtsschulen führte, war der von blutigen Bürgerkriegen begleitete Streit der frühislamischen Gemeinde über die Frage des rechtmäßigen Nachfolgers des Propheten als Führer des islamischen Gemeinwesens. Die Spaltung war somit zunächst (staats-)politischer Natur und nicht rechtsdogmatisch bedingt. Während der Prophet Muhammad nach sunnitischer Auffassung zu Lebzeiten keine eindeutige Aussage über seine Nachfolgeschaft getätigt haben soll, behaupteten Anhänger der Partei 'Alis (shi'at 'Ali, eingedeutscht als „Schia“), ohne es allerdings beweisen zu können, dass 'Ali ibn Abi Talib (Vetter und Schwiegersohn des Propheten) von diesem selbst als dessen einzig legitimer Nachfolger bestimmt worden sei. Durch diesen Streit ist eine neue Ausrichtung des Islams entstanden.
Die Ausbreitung der Glaubenslehre und des Gesetzes im gesamten Vorderen Orient und im Mittelmeerraum führte indes zu neuen Rechtsfragen, in welchen sich die Unterschiede und die Spaltung zwischen Sunna und Schia festigten. Dies führte zur Entstehung neuer Rechtsschulen. In der ersten Hälfte des 8.?Jahrhunderts knüpften im sunnitischen Islam die Schulgründungen an Diskussionszirkel in religiösen Zentren wie Medina, Kufa und Basra an, welche die Doktrin herausragender Lehrer und ihrer Schüler zur Grundlage hatte. Diese haben schließlich vier sunnitische Rechtsschulen, nämlich die hanafitischemalikitischeschafi'itische sowie hanbalitische hervorgebracht. Sie hatten seit jeher keinen Anspruch auf Exklusivität, sondern auf Koexistenz und Diskurs und akzeptieren die primären Rechtsquellen Koran und Sunna. Uneinigkeit besteht teilweise in der Anerkennung der beiden anderen sekundären Quellen, dem Analogieschluss und dem Gelehrtenkonsens, was im Folgenden näher zu erläutern sein wird.
Durch die konfessionelle Spaltung ist auf der anderen Seite die schiitische Rechtsschule entstanden, die sich in weitere Untergruppen unterteilte. Die Weiterentwicklung dieser Schule hing mit der Frage zusammen, dass nach 'Alis Tod die Meinungen der verschiedenen schiitischen Gruppierungen auseinandergingen, wer nun als Nachfolge zur Führung der Gemeinde berechtigt sei. Für die Zwölferschiiten gelten ausschließlich die Nachfolger 'Alis als legitime Nachfolger, wobei seine Familie auf die männlichen Nachkommen der Prophetentochter Fatima aus der Ehe mit 'Ali eingeengt wird. Genauso wie das Erbcharisma als konstitutiv gilt, gilt auch die Unfehlbarkeit der Imame als konstitutiv. Schiiten betrachten die Führer der muslimischen Gemeinde (von ihnen emam genannt), deren Reihe mit 'Ali beginnt und sich bei seinen beiden Söhnen und deren Nachkommen fortsetzt, als unfehlbare Nachfolger des Propheten Muhammad, da sie als von Gott bestimmte religiöse Führer der islamischen Gemeinde gelten. Der Name „Zwölferschiiten“ bezieht sich auf die Zahl dieser Führer der muslimischen Gemeinde, die als legitim anerkannt werden. Je nach dem, welcher Imam von einer Gruppe (im Gegensatz zu seinen Nachfolgern) noch als legitim anerkannt wird, wird von Fünfer-, Siebener- und Zwölferschiiten gesprochen. Indessen vereinigen die Zwölferschiiten in der Moderne die Majorität der Schiiten auf sich.

2. Das Wesen des Gesetzes


Wörtlich übersetzt bedeutet das arabische Wort Scharia „der Weg zur Tränke“ oder „der klare Weg“. Sure 5, Vers 48 des Qurans spricht von der Scharia als dem Weg, der für jeden Muslim bestimmt ist.
Islamisches Recht ist somit als religiöses Recht durch Normen göttlichen Ursprungs gekennzeichnet (ius divinum). Der Islam ist seinem Selbstverständnis nach die vollkommene Religion, welche ein umfassendes „Lebensmodell“ für alle Lebensbereiche darstellt und vorbehaltlosen Gehorsam der Gläubigen für den Kanon ethischer Maximen und rechtlicher Bestimmungen als Grundpfeiler des religiös bestimmten Lebens verlangt. Die Scharia (arab. shari'a) ist die Summe dieser Richtlinien, die für alle und in allen Zeiten Verbindlichkeit beanspruchen, so die traditionelle Auslegung. Zu beachten ist: Scharia ist ein Synonym für die Gesamtheit der islamischen Gesetze und nicht allein mit dem Strafrecht gleichzusetzen.
Das göttliche „Gesetzeswerk“ wird in zwei, jedoch eng miteinander verbundene Bereiche aufgeteilt: Glaubensordnung (elahiyat) und Rechtsordnung (shari'a), die uno actu verstanden werden. Der Begriff des Rechts muss unter der Bedingung verwendet werden, dass das islamische Recht Teil eines Systems religiöser Pflichten ist, das sich mit nichtreligiösen Elementen vermischt hat. Doch ist die in religiöse Pflichten inkorporierte Rechtsmaterie darin nicht vollständig aufgegangen. Der technische Charakter, das juristische Schlussfolgern und Argumentieren wurde weiterentwickelt. Bei einer wie auch immer gearteten Analyse des Rechtsbegriffs im islamischen Recht darf nicht aus den Augen gelassen werden, dass die islamische Rechtswissenschaft von Anfang an religiöse Dimensionen besaß. Ließe man beispielsweise Glaubensregeln ('ebadat) völlig außen vor, so würde das Wesen des islamischen Rechts auf das säkular-westliche Vorbild reduziert, was dem Charakter und Anspruch des islamischen Rechts zuwiderliefe. Als Alternativkonzept kann dasjenige bezeichnet werden, dass zwischen forum internum (Handlung ohne äußere feststellbare Wirkung = Beziehung Mensch – Gott) und forum externum (Handlungen mit äußerer feststellbarer Wirkung = Beziehung Mensch – Gemeinschaft) differenziert. Nur für das forum internum lässt das islamische Recht eine positivrechtliche Regulierung zu, nicht zuletzt auch des Erfordernisses der Justiziabilität wegen. Somit ist die Anwendung und Befolgung des islamischen Rechts – ungeachtet der Tatsache, dass die Befolgung der Rechtsnormen für Gläubige zugleich Religion ist – als Recht anzusehen.
Charakteristisch für die Scharia ist weiterhin die primäre Geltung von Pflichten, welche gegenüber den Rechten im Vordergrund stehen. Dieses Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein, das zunächst Gott gegenüber gilt, prägt unter der Prämisse des gegenseitigen Respekts auch das Handeln der Menschen untereinander, haben doch soziale Normen eine hervorgehobene Stellung im islamisch geprägten Kulturraum. Darin manifestiert sich auch, dass der Islam eine Religion der Öffentlichkeit ist. Der Glaube wird erst im gemeinsamen Praktizieren göttlicher Vorschriften bzw. im äußeren Zeugnis und Bekenntnis in der Gesellschaft verwirklicht. Diese Komponente des Gesetzes stellt gleichsam das Fundament der islamischen Gesellschaftsordnung dar.
Die Regelungsbereiche des klassischen islamischen Rechts lassen sich in Ritualvorschriften ('ebadat) und Fragen des Privatrechts (mu'amelat) unterscheiden. Aus schiitischer Perspektive werden zudem Fragen des öffentlichen Rechts (siyasat) erörtert.


a) Die Glaubensordnung

Die Glaubensordnung ('ebadat) ist die Summe zeitlos wie ewig geltender religiöser Verpflichtungen (in Form von kultischen Handlungen) vor Gott, die unter keinen Umständen den vergänglichen gesellschaftlichen Anforderungen durch weltliche Gesetzgebung unterliegen. Obschon die Glaubensordnung nicht unmittelbar Gegenstand unseres Seminares ist, werden deren wichtigste Grundsätze, „Säulen des Islams“ genannt, die immer dann relevant sind, wenn frauenbezogene Regelungen, wie etwa die Kopftuchpflicht für Frauen, mit Verweis darauf begründet und folglich als vermeintlich zwingend mit rechtlicher Verpflichtungskraft versehen werden.
Die religiösen Glaubensprinzipien und Pflichten werden durch jene fünf Säulen des Islams festgelegt, welche von jedem Muslim – unabhängig von der jeweiligen Rechtsschule – zu erfüllen sind:
Die erste Säule ist das Glaubensbekenntnis (arabisch: Schahada), wonach es keinen Gott außer Gott gibt und Muhammad sein Prophet ist.
Das tägliche Gebet wird als zweite Säule fünfmal am Tag unter Beachtung vorgeschriebener Waschrituale verrichtet.
Die Pflichtalmosen sind gemäß der dritten Säule eine Vermögenssteuer zugunsten von Armen, die einkommensabhängig freiwillig an den Staat abgeführt werden; das Fünftel ist die islamische Einkommensteuer.
Die vierte Säule ist die Pflicht zum Fasten im Monat Ramadan.
Schließlich wird die fünfte Säule durch die Wallfahrt bestimmt, wonach ein Muslim verpflichtet ist, mindestens einmal im Leben zur Kaaba („Gotteshaus“) in Mekka zu pilgern – sofern die finanziellen sowie gesundheitlichen Verhältnisse dies zulassen.

Die Bedeutung der Pflichten wird insbesondere im Hinblick auf die Gewährleistung von Frauenrechten besonders deutlich, was an folgenden Beispielen demonstriert werden soll. Obwohl im Iran die Erlaubnis des Ehemannes für die Ausreise der Ehefrau gesetzlich vorgeschrieben ist, verzichtet der Staat für die Erteilung der Ausreisegenehmigung für die pilgerwillige Frau ausnahmsweise darauf, sollte sich der Ehemann weigeren. Weiterhin gehören Bekleidungsvorschriften, wie etwa eine Kopftuchpflicht, nicht zu den Grundsäulen des Islams, obwohl eine entsprechende Pflicht in manchen islamischen Ländern kodifiziert ist.

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