Rechtssprechung

Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht

Dirk Weingarten
Polizeihauptkommissar & Ass. jur.
Polizeiakademie Hessen


§ 174 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StGB – Tatbestandliche Grenzen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen; Lehrer - Schüler - Verhältnis. Unangemessenes, unanständiges oder verantwortungsloses Verhalten ist nicht per se strafbar. § 174 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StGB setzen voraus, dass zum Zeitpunkt der sexuellen Handlung zwischen den beteiligten Personen ein besonderes, der Erziehung, der Ausbildung oder der Betreuung des minderjährigen Opfers in der Lebensführung dienendes Obhutsverhältnis besteht. Der Täter muss das Opfer im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses (Über-/Unterordnungsverhältnis) zu überwachen und zu lenken haben; das Recht und die Pflicht haben, die Lebensführung und damit dessen geistige und sittliche Entwicklung zu beherrschen. Ein Lehrer, der ein sexuelles Verhältnis mit einer 14-jährigen Schülerin unterhält, macht sich daher nicht allein deshalb nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar, weil beide derselben Schule zugehören, wenn auch der Täterkreis nicht zwangsläufig auf Klassen- oder Fachlehrer begrenzt ist. Ob zwischen einem Lehrer und einer Schülerin eines der in § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB benannten Obhutsverhältnisse besteht, richtet sich nicht nach abstrakten (schul-)rechtlichen Regelungen, sondern nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles. Die bei einem Lehrer in erster Linie in Betracht kommende Erziehung übt derjenige aus, der für die Überwachung der Lebensführung des Jugendlichen und seine körperliche, psychische und moralische Entwicklung verantwortlich ist. Bei einer Schule mit ca. 500 Schülerinnen und Schülern entsteht durch dreimalige „Vertretung„ in einem Schuljahr für jeweils eine Unterrichtsstunde jedenfalls dann kein über die Vertretungszeit hinausreichendes Obhutsverhältnis, wenn sich die „Vertretung„ faktisch auf eine vorübergehende Beaufsichtigung beschränkt, weil die Schülerinnen und Schülern der Klasse, deren Lehrer fehlt, stundenweise auf andere Klassen aufgeteilt werden. Ein von Lehrern außerhalb des schulischen Angebots geleiteter freiwilliger Tanzkurs mit dem alleinigen Zweck, die Teilnehmer in die Lage zu versetzen, auf einer Schulabschlussfeier zu tanzen, verfolgt keine Erziehungsziele. (OLG Koblenz, Beschl. v. 29.12.2011 – 1 Ss 213/11)

§ 211 StGB – Spontaner Entschluss zur Tötung des zweiten Opfers nach vorangegangener heimtückischer Tötung des ersten Opfers; keine Heimtücke bei Tötung des zweiten Opfers. Fasst der Täter nach der heimtückischen Tötung des ersten Opfers spontan den Entschluss, ein zweites Opfer zu erschießen, handelt er nicht mehr heimtückisch, wenn das zweite Opfer aufgrund der Beobachtung des vorangegangenen Geschehens die Gefahr erkannt hatte und somit nicht mehr arglos war. (BGH, Urt. v. 15.09.2011 – 3 StR 223/11)

§§ 211, 212, 22, 24 Abs. 1, 224 StGB – Gefährliche Körperverletzung; Angriff in der Nürnberger U-Bahn; keine Verurteilung wegen versuchten Totschlags. Der BGH verwirft die Revision als unbegründet. Folgender Sachverhalt hatte sich ereignet: Ein sich selbst als „Neonazi„ bezeichnender, wegen gefährlicher Körperverletzung vorbestrafter, gewaltbereiter und begeisterter Kampfsportanhänger, der auch mal gerne ein Shirt mit der Aufschrift: „Spezialist für Körperverletzungen„ trägt, ist strafbefreiend vom Tötungsvorsatz zurückgetreten, wenn er seinem politisch gegensätzlichen Gegner/Opfer zuvor gegen den Soalarplexus und anschließend – am Boden liegend – gegen das Gesicht trat, dieser sodann vom Geschädigten jedoch abließ und sich vom Tatort entfernte. Das Opfer brach danach mit einem Herzstillstand zusammenbrach und entging nach einstündiger Wiederbelebung nur knapp dem Tode. (BGH, Urt. v. 21.12.2011 – 1 StR 400/11)

§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, §§ 22, 23 StGB – Gefährliche Körperverletzung; mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs; Abgrenzung zwischen Versuch und Vollendung. Eine vollendete gefährliche Körperverletzung liegt nicht vor, wenn ein Schlag mit einer Metallstange, bei der es sich um ein gefährliches Werkzeug handelt, keinerlei unmittelbare gesundheitliche Beeinträchtigung zur Folge hat, sondern diese erst durch die Abwehrbewegung und den anschließenden Sturz des Opfers verursacht wurde. Hier ging der Angeklagte mit einer über den Kopf erhobenen Metallstange auf den Zeugen zu und hat diesen geschlagen. Dabei habe er den zur Abwehr erhobenen linken Unterarm des Zeugen getroffen, ihn jedoch nicht verletzt. Aufgrund des Schlages sei der Zeuge ins Stolpern geraten und rückwärts auf den gepflasterten Boden gefallen, wodurch er sich am rechten Ellenbogen eine schmerzhafte Schürfwunde zugezogen habe. (KG Berlin, Beschl. v. 13.05.2011 – (3) 1 Ss 20/11)

§§ 250 Abs. 1 Nr. 1b, 255 StGB – Räuberische Erpressung; Drohung mit einer in der Jackentasche verborgenen Wasserpistole. Als tatbestandsqualifizierendes Drohungsmittel im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB scheiden solche Gegenstände aus, bei denen die Drohungswirkung nicht auf dem täuschenden Erscheinungsbild des Gegenstands selbst, sondern auf den täuschenden Erklärungen des Täters beruht. Danach haftet einem zur Drohung eingesetzten vorgeblich gefährlichen Gegenstand (hier: grellbunte Spielzeugwasserpistole) keine objektive Scheinwirkung an, wenn seine objektive Ungefährlichkeit schon nach dem äußeren Erscheinungsbild offenkundig auf der Hand liegt. Für diese Beurteilung kommt es allein auf die Sicht eines objektiven Betrachters und nicht darauf an, ob im konkreten Einzelfall das Tatopfer eine solche Beobachtung tatsächlich machen konnte, oder ob der Täter diese durch sein täuschendes Vorgehen gerade vereitelte, indem er den Gegenstand in seiner Jackentasche verborgen hielt (hier: Opfer konnte die grellbunte Spielzeugwasserpistole nicht sehen). (BGH, Beschl. v. 11.05.2011 – 2 StR 618/10)

II. Prozessuales Strafrecht

§ 81a StPO – Wirksame Einwilligung zur Blutentnahme. Von einer wirksamen Einwilligung ist bei einer freiwilligen, ernstlichen und in Kenntnis der Sachlage und des Weigerungsrechts erteilten ausdrücklichen Zustimmung des Beschuldigten auszugehen. Dies erfordert, dass der Beschuldigte - auch ohne geschäftsfähig sein zu müssen - Sinn und Tragweite der Einwilligung erfasst (Hier: Reaktionen sehr verlangsamt, zuweilen unkoordiniert, Augäpfel glasig, aus Fahrzeug sowie aus Mund deutlich Alkoholgeruch wahrnehmbar, Schwierigkeiten beim Laufen, schwankender Gang, jedoch: Sinnvolle Unterhaltung möglich; Atemalkoholtest ergab einen Wert von 4.02 Promille). Dabei kommt es nicht darauf an, dass der Beschuldigte die strafrechtlichen Folgen einer Blutalkoholmessung überblickt, sondern, ob er den mit der Blutentnahme verbundenen körperlichen Eingriff und dessen Risiken erfasst. (Thüringer OLG, Beschl. v. 06.10.2011 – 1 Ss 82/11)

§ 81a Abs. 2 StPO – Pauschale Annahme der Polizei zur Blutentnahmeanordnung berechtigt zu sein; Schwerwiegender Verfahrensfehler. Der ermittelnde Polizeibeamte hielt sich generell für anordnungsbefugt. Er hat im Hinblick auf eine allgemeine Dienstanweisung keine eigene Bewertung der Frage vorgenommen, ob möglicherweise die Anordnung der Blutentnahme dem Richter vorbehalten ist. Mit Rücksicht auf das generelle Vorgehen bei Alkohol- und Drogendelikten hat er die Blutprobe angeordnet. Es wurden keine Überlegungen dazu angestellt, welche Umstände im konkreten Einzelfall die von ihm pauschal unterstellte Gefahr im Verzug begründeten und wodurch seine Anordnungskompetenz ausnahmsweise eröffnet war. Die pauschale Annahme stets zur Anordnung einer Blutprobe berechtigt zu sein, begründet die Besorgnis einer dauerhaften und ständigen Umgehung des Richtervorbehalts und somit handelt es sich um einen schwerwiegenden Verfahrensfehler, der der Verwertung der Blutentnahme entgegensteht, da der Schutzzweck des Richtervorbehalts verkannt wird. (OLG Köln [Senat für Bußgeldsachen], Beschl. v. 26.08.2011 – III – 1 RBs 201/11)

§ 261 StPO – Beweiswürdigung. Beweiswert des Wiedererkennens einer Person bei Abbruch der Wahllichtbildvorlage vor Vorlage bzw. Abspielen von acht Lichtbildern. Bei einer Wahllichtbildvorlage sollten einem Zeugen Lichtbilder von wenigstens acht Personen vorgelegt werden. Denn er kann bei einer größeren Vergleichszahl etwaige Unsicherheiten in seiner Beurteilung besser erkennen und dementsprechend offen legen, sodass im Ergebnis eine Wiedererkennung unter (mindestens) acht Vergleichspersonen einen höheren – in Grenzfällen möglicherweise entscheidenden – Beweiswert gewinnen kann. Insgesamt ist es vorzugswürdig, ihm diese nicht gleichzeitig sondern nacheinander (sequentiell) vorzulegen oder (bei Einsatz von Videotechnik) vorzuspielen. Wird die Wahllichtbildvorlage vor der Vorlage bzw. dem Vorspielen von acht Lichtbildern abgebrochen, weil der Zeuge erklärt hat, eine Person wiedererkannt zu haben, macht dies das Ergebnis der Wahllichtbildvorlage zwar nicht wertlos, kann aber ihren Beweiswert mindern. (BGH, Beschl. v. 09.11.2011 – 1 StR 524/11)

§ 100a StPO – Einsatz eines „Staatstrojaners„ als Ermittlungsmaßnahme; Unzulässigkeit der Erstellung von Screen-Shots im Rahmen der Telekommunikationsüberwachung. Mit einer weit verbreiteten Meinung in Rechtsprechung und Literatur ist auch diese Landgerichtskammer der Auffassung, dass die sogenannte Quellen-TKÜ einschließlich der hierfür erforderlichen technischen Maßnahmen zulässig ist. § 100a StPO erfasst grundsätzlich die Überwachung und Aufzeichnung aller vom Beschuldigten im Rahmen von Telekommunikationsvorgängen zum Zwecke dieser Kommunikation produzierten und für die Weiterleitung an den Kommunikationspartner vorgesehenen Daten. Dieser Umstand schafft gerade im Bereich der Internettelefonie auch eine „Annexkompetenz„ für den technischen Eingriff in das Computersystem des Versenders mittels eines aufgespielten Computerprogramms. Für das Kopieren und Speichern von grafischen Bildschirminhalten, also der Fertigung von Screenshots, besteht jedoch keine Rechtsgrundlage, wenn zum Zeitpunkt dieser Maßnahmen kein Telekommunikationsvorgang stattfindet. Im hier zu entscheidenden Fall wurden im zeitlichen Abstand von 30 Sekunden Screenshots von der Bildschirmoberfläche gefertigt wurden, während der Internet-Browser aktiv geschaltet war. Das Gericht hatte sich sehr dezidiert mit den Vorgängen beschäftigt und im Einzelnen ausgeführt, dass zwar der Beschuldigte um eine E-Mail verfassen zu können, eine Verbindung zu einem Server aufbauen müsse, der ihm die erforderliche Maske zur Verfügung stelle. Der Vorgang des Schreibens der E-Mail finde dann aber ohne Datenaustausch statt, da die einzelnen Buchstaben nicht sofort an den Server weiter übertragen werden. Die E-Mail wird erst dann zum Server und damit in die Außenwelt transportiert, wenn der Beschuldigte den „Versenden-Button„ betätigt; somit könne beim Schreiben einer E-Mail noch nicht von einem Vorgang der Telekommunikation gesprochen werden. Etwas Anderes könne auch nicht aus dem Umstand hergeleitet werden, dass der Beschuldigte zunächst, um die E-Mail schreiben zu können, eine Internetverbindung herstelle. Denn anders als beim Aufbau einer Telefonverbindung werde die Verbindung zum Server nach dem Aufruf der E-Mail-Maske nicht weiter genutzt. Beim Schreiben der E-Mail finde gerade kein Datenaustausch mit dem Server statt. Es kann auch nicht davon gesprochen werden, dass das Schreiben der E-Mail so eng mit ihrer späteren Versendung verknüpft sei, dass bereits das Schreiben in der Maske ohne Datenaustausch ein Vorgang der Telekommunikation im Sinne des § 100a StPO wäre. Dies zeige sich schon darin, dass die E-Mail während und nach dem Schreiben stets noch geändert oder gelöscht werden könne. (LG Landshut, Beschl. v. 20.01.2011 – 4 Qs 346/10)