Rechtssprechung

Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht

Kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Täter das Opfer bei der Vornahme einverständlicher sexueller Handlungen mit der die schweren Verletzungen herbeiführenden Handlung überrascht hat, so dass das Opfer keinen Abwehrwillen hat bilden können, ist der Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB auch dann nicht erfüllt, wenn der Täter bei der sexuellen Handlung zugleich Gewalt anwendet. Sodann kommt in Anwendung des Zweifelsgrundsatzes nur eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung, möglicherweise wegen einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB in Betracht. (BGH; Beschl. v. 12.05.2010 – 4 StR 92/10)

Dirk Weingarten
Polizeihauptkommissar & Ass. jur.
Polizeiakademie Hessen


Schon wer bewusst und gewollt Seiten mit kinderpornografischem Inhalt aus dem Internet aufruft und auf dem Bildschirm seines Computers betrachtet, unternimmt es, sich den Besitz von kinderpornografischen Schriften (hier: Daten) zu verschaffen. Nicht erforderlich zur objektiven und subjektiven Tatbestandserfüllung sind ein Plan, die Datei manuell abzuspeichern, oder ein Wissen um die automatische Abspeicherung der Datei im so genannten Internet-Cache.
Der Wille des Gesetzgebers war es, mit § 184b Abs. 4 StGB ein umfassendes strafbewehrtes Besitzverbot für Kinderpornographie zu schaffen, um den Nachfragemarkt auszutrocknen, weil man sich vorstellte, auf diese Weise den Anreiz für die Herstellung kinderpornographischer Produkte und den damit verbundenen sexuellen Missbrauch von Kindern zu nehmen. Ein Internetnutzer trägt durch das Aufrufen kinderpornographischer Dateien bereits zu einer Steigerung der Nachfrage bei. (OLG Hamburg; Urt. v. 15.02.2010 – 2 - 27/09)

Der BGH hat den Freispruch eines Arztes, der dem später verstorbenen Verdächtigen auf polizeiliche Anordnung hin Brechmittel und Wasser über eine Magensonde verabreicht hatte, aufgehoben. Fahrlässig schuldhaftes Handeln kommt unter dem Aspekt eines Übernahmeverschuldens bei demjenigen Arzt in Betracht, der eine Tätigkeit vornimmt, obwohl er weiß oder erkennen kann, dass ihm die dafür erforderlichen Kenntnisse fehlen. So hat der Mediziner den Betroffenen nicht über gesundheitliche Risiken bei zwangsweisem Brechmitteleinsatz aufgeklärt und nach einer ersten Ohnmacht unter menschenunwürdigen Umständen weitergehandelt. (BGH; Urt. v. 29.04.2010 – 5 StR 18/10)

Versucht ein Angeklagter (sowie dessen Helfer) gewaltsam einen mit dem Zuhälter einer russischen Prostituieren gezahlten „Freikaufpreis„ zurückzuerlangen (hier: durch Verprügeln mit Axtstielen), trägt dieser Sachverhalt den Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 4 StGB) und wegen versuchter Nötigung (§§ 22, 23, 240 StGB). Die Handlung rechtfertigen aber nicht die Verurteilung wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung, da die Angeklagten nicht in der Absicht handelten, sich (bzw. einen Dritten) zu Unrecht zu bereichern. Dem Angeklagten stand vielmehr ein Anspruch auf Rückzahlung des gezahlten Geldes (hier: 10.000 Euro) zu, da sich der Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ergibt. Die Zahlung war ohne rechtlichen Grund erfolgt, weil die Vereinbarung über den „Freikaufpreis„ bereits nach ihrem Inhalt gegen die guten Sitten verstieß und deshalb gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig war. (BGH; Beschl. v. 23.02.2010 - 4 StR 438/09)

Ein Täter stiehlt auch dann eine durch ein verschlossenes Behältnis besonders gesicherte Sache, wenn er als Unberechtigter den ordnungsgemäß dafür vorgesehenen Schlüssel verwendet. Dient ein Behältnis nach seiner erkennbaren Zweckbestimmung wenigstens unter anderem auch zur Sicherung der darin aufbewahrten Sache gegen Diebstahl, wie es bei einem Tresor idealtypisch der Fall ist, dann ist das verschlossene Behältnis ein Spezialfall einer Schutzvorrichtung im Sinne der Vorschrift; § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB. Das Regelbeispiel setzt voraus, dass das Behältnis verschlossen ist. Weitere Sicherungen, etwa durch Wegschließen des Schlüssels, sind danach zu seiner Erfüllung nicht mehr erforderlich. Der Täter muss – sofern er nicht sogar die Sache mitsamt dem Behältnis stiehlt – die Sicherung überwinden, wobei es aber nicht darauf ankommt, wie er das bewirkt. Es ist folglich gleichgültig, ob eine besondere Sicherungsvorrichtung durch einen echten oder einen falschen Schlüssel überwunden wird; es muss lediglich darauf abgestellt werden, ob der Täter zur Verwendung des Schlüssels berechtigt ist oder nicht. (BGH; Beschl. v. 05.08.2010 - 2 StR 385/10)

Ein „Einsteigen„ in einen Raum ist über den engeren Sprachsinn hinaus jedes nur unter Schwierigkeiten mögliche Eindringen durch eine zum ordnungsgemäßen Eintritt nicht bestimmte Öffnung. Daher liegt ein „Einsteigen„ im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht vor, wenn der Täter zum Öffnen einer im Erdgeschoss befindlichen Terrassentür zunächst durch einen gekippten Türflügel in die Wohnung zum Öffnen der daneben liegenden Tür hineingreifen muss. (BGH; Beschl. v. 27.07.2010 - 1 StR 319/10)

Kann ein objektiver Betrachter die Gefährlichkeit eines vom Täter verwendeten Gegenstandes (hier: eine handelsübliche Sporttasche und ein Mobiltelefon, die er in Einheit als „Bombe„ bezeichnete) überhaupt nicht einschätzen und gibt der äußere Augenschein keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Behauptung des Täters über die Gefährlichkeit zutrifft, kommt eine Strafbarkeit nach
§ 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB in Betracht. Ein solcher Sachverhalt liegt im Ergebnis nicht anders als bei der Verwendung sonstiger als „Scheinwaffen„ bezeichneter, objektiv ungefährlicher Gegenstände. (BGH; Urt. v. 18.08.2010 – 2 StR 295/10)

Ein Beiseiteschaffen im Sinne des § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB liegt nur dann vor, wenn der Zugriff auf den weggegebenen Vermögensbestandteil für einen Insolvenzverwalter im Rahmen der Gesamtvollstreckung (Insolvenz) wesentlich erschwert wird. (BGH; Urt. v. 29.04.2010 – 3 StR 314/09)

II. Prozessuales Strafrecht

Der für die Anordnung der Überwachung der Telekommunikation nach § 100a Abs. 1 StPO erforderliche Tatverdacht setzt keinen bestimmten Verdachtsgrad voraus. Insbesondere muss der Tatverdacht weder hinreichend im Sinne des § 203 StPO noch dringend im Sinne des § 112 Abs. 1 S. 1 StPO sein. § 100a StPO erfordert nur einen einfachen Tatverdacht, der allerdings auf bestimmten Tatsachen beruhen muss. Dabei sind mit Blick auf das Gewicht des in Rede stehenden Grundrechtseingriffs Verdachtsgründe notwendig, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Es müssen Umstände vorliegen, die nach der Lebenserfahrung, auch der kriminalistischen Erfahrung, in erheblichem Maße darauf hindeuten, dass jemand als Täter oder Teilnehmer eine Katalogtat begangen hat. Erforderlich ist, dass der Verdacht durch schlüssiges Tatsachenmaterial bereits ein gewisses Maß an Konkretisierung und Verdichtung erreicht hat. (BGH; Beschl. v. 11.03.2010 - StB 16/09)

III. Sonstiges

In Deutschland gibt es entgegen Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) keinen wirksamen Rechtsbehelf, mit dem Abhilfe bei überlangen zivilgerichtlichen Verfahren erlangt werden kann. Von 1959 bis 2009 hat der Gerichtshof mehr als 40 Urteile gegen die Bundesrepublik Deutschland erlassen, in denen er wiederholte Konventionsverletzungen durch überlange zivilgerichtliche Verfahren festgestellt hat. Im Ergebnis betrifft mehr als die Hälfte der Urteile des Gerichtshofs gegen Deutschland, in denen eine Verletzung festgestellt wird, die überlange Dauer gerichtlicher Verfahren. Deutschland muss ohne Verzögerung und spätestens innerhalb eines Jahres seit dem Tag, an dem dieses Urteil endgültig wird (Entscheidungsdatum: 02.09.2010), einen Rechtsbehelf oder mehrere Rechtsbehelfe gegen überlange Gerichtsverfahren einführen. (EGMR; Urt. v. 02.09.2010 – 46344/06 [Rumpf/Deutschland])

Der BGH hat entschieden, dass Verurteilte, die wegen vor dem 31.01.1998 begangener Taten seit mehr als zehn Jahren erstmals in der Sicherungsverwahrung untergebracht sind, nicht ohne weitere Sachprüfung zu entlassen sind. Der 5. Strafsenat des BGH geht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG davon aus, dass die Menschenrechtskonvention und die hierzu ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei der Auslegung und Anwendung deutschen Rechts zu beachten sind. Der Deutsche Bundestag hat die rückwirkende Geltung des § 67d Abs. 3 S. 1 StGB ausdrücklich angeordnet. Wo der gegenteilige Wille des Gesetzgebers – wie hier – unmissverständlich zum Ausdruck kommt, ende nach der Rechtsprechung des BVerfG die Zulässigkeit konventionskonformer Auslegung.
Allerdings sei § 67d Abs. 3 S. 1 StGB nach Auffassung des 5. Strafsenats bei rückwirkender Anwendung im Lichte der Entscheidung des EGMR einschränkend auszulegen: Die erstmalige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach zehnjährigem Vollzug darf nur noch dann weiter vollstreckt werden, wenn aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen abzuleiten ist.
Diesen Grundsatz haben die über die Entlassung von Sicherungsverwahrten entscheidenden Gerichte unabhängig vom Ergebnis der Anfrage des Senats bei den anderen Strafsenaten ab sofort zwingend zu beachten. (BGH; Entsch. v. 11.11.2010 – 5 StR 394/10, 5 StR 440/10, 5 StR 474/10)

In der Zeitschrift Der Strafverteidiger 01/2011, S. 43 - 49 stellt Rechtsanwältin Dr. A. Dießner maßgebliche Inhalte des „Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren„ v. 03.08.2009 dar. Verständigungsformen, die nach nunmehr geltendem Recht rechtswidrig sind und deren strafprozessuale Formen werden vorgestellt. Davon ausgehend erfolgt eine nähere Beleuchtung der bestehenden strafrechtlichen Risiken rechtswidriger Verständigungen für daran beteiligte Personen (Richter, STA und Verteidiger) im Hinblick auf die Straftatbestände der Rechtsbeugung (§ 339 StGB), der Falschbeurkundung im Amt (§ 348 StGB), der Nötigung
(§ 240 StGB), der Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB) sowie der Strafvereitelung und des Parteiverrats (§ 356 StGB).