Wirtschaftskriminalität / Korruption

Banker oder Banditen?

In jüngerer Zeit haben manche Politiker das Weltfinanzsystem schon mehrfach nur Millimeter vom Abgrund entfernt gesehen. Vor diesem Hintergrund lade ich zu einer Wanderung ans „Ende der Welt“ ein. Sollten Sie diese Einladung annehmen, werden wir einige Rastplätze aufsuchen müssen. Leider ist der Aufenthalt dort nicht nur erholsam. Wir sehen uns nämlich einigen Fragen ausgesetzt. Die erste heißt:

I. Krise oder Konsequenz?

Die Krise ist eine Krise ist keine Krise. Das ist (noch) keine Einladung, mir auf einen dadaistischen Parcours zu folgen. Mit diesem Satz will ich auch nicht meine Begabung zum Unsinn beweisen. Er reflektiert nur den Rationalitätsabbruch in der wissenschaftlichen und politischen Debatte über Entwicklungen in der internationalen Finanzwirtschaft. In Wahrheit handelt es sich noch nicht einmal um einen Abbruch. Ich konnte von Anfang an keinen analytisch-rationalen Umgang mit den seit Jahren auf den globalen Kapitalmärkten zu beobachtenden Phänomenen entdecken. Der Ausdruck „Krise„ wird meistens immer noch wie ein Synonym für ein Gottesurteil, eine unabwendbare Naturkatastrophe verwandt, deren Folgen man mit der Ergebenheit von Lämmern hinzunehmen hat. Tatsächlich erträgt man mit einer fast schon pathologischen Demut die Vernichtung von Vermögenswerten und die Zerstörung von Lebenschancen, die ohne Beispiel sind. Natürlich besteht an nacheilenden Erklärungen kein Mangel. Ich werde nicht darüber spekulieren, ob der Sachverstand von Politikern mit dem Ende ihrer Amtszeit direkt oder indirekt, proportional oder umgekehrt proportional steigt oder sinkt, auch wenn dabei die eine oder andere aufschlussreiche Matrix denkbar wäre. Genauso gut könnte ich eine vergleichende Betrachtung über die Eintrittswahrscheinlichkeit jährlicher Wettervorhersagen und die Verlässlichkeit wirtschaftswissenschaftlicher Prognosen anstellen. Das mag zwar unterhaltsam sein, ist aber sachlich völlig unergiebig.

Dr. Wolfgang Hetzer,
Adviser to the Director General, European Anti-Fraud Office, Brüssel

Ich will mich vornehmlich auf eine Chronistenrolle beschränken und daran erinnern, wie nach dem Eintritt eines unübersehbar großen Schadens für das Gemeinwohl verantwortliche Politiker auf einmal vor Klugheit fast geplatzt sind. Aber auch der Rest der Welt war plötzlich mit großem Sachverstand gesegnet. Auf einmal versteht jeder etwas von Geld. Keiner kommt heutzutage mehr an klugen Erklärungen über die Entstehungsgründe der „Finanzkrise„ vorbei. Deutsche Kardinäle, amerikanische Investmentbanker, britische Finanzminister, griechische Regierungschefs, aktive und abgehalfterte Politiker, TV-Philosophen, Universitätsprofessoren, Talk Show Master, Wahrsager, Unternehmer, Gewerkschaftsführer, Bankmanager, Bundespräsidenten, Frau und Mann auf der Straße: Jeder weiß, was gelaufen ist. Aber niemand sah es kommen. Man geriert sich heute noch als unschuldiges Opfer einer Naturkatastrophe. Glücklicherweise nimmt die Kraft der Erleuchtung manchmal im Zustand beendeter Verantwortlichkeit – scharf zu trennen von charakterlich-konstitutiver Verantwortungslosigkeit – zu. Ein beeindruckendes Beispiel ist der Bundesminister der Finanzen a. D. der Bundesrepublik Deutschland. Der ehemalige Amtsträger Steinbrück verkündete gegen Ende des vergangenen Jahres (2010), dass sich ein „giftiges Gebräu„ gebildet hat. Dazu gehören:

  • Das Paradigma der Deregulierung
  • Die Jagd nach höchsten Renditen
  • Die Politik des billigen Geldes
  • Ein massives Ungleichgewicht zwischen den USA (mit hohem Leistungsbilanzdefizit und starker Abhängigkeit von ausländischem Kapital) und China (mit hohen Exportüberschüssen und Währungsreserven)

Steinbrück hat erkannt, dass sich daraus eine Blase entwickelte, deren Platzen das Weltfinanzsystem an den Rand des Abgrunds geführt hat. Mittlerweile weiß er auch, dass Rating-Agenturen die Bonität von Papieren zu hoch eingeschätzt hatten. Es galt die modelltheoretische Annahme, dass die Ausfallrisiken der unterschiedlich strukturierten Produkte oder Verbriefungen voneinander unabhängig sind. „Kaskadeneffekte„ oder ein systemischer Zusammenbruch waren einfach ausgeschlossen. Ein Grund für diese Fehleinschätzungen liegt darin, dass die Rating-Agenturen am Verkauf strukturierter Produkte indirekt mitverdienten. Sie berieten die Banken bei der Strukturierung dieser Produkte und gaben ihnen dann ihr „Gütesiegel„. Je zahlreicher und je unterschiedlicher die Produkte waren, um so mehr verdienten sie. Auf einmal hat Steinbrück sogar verstanden, dass sich die Politik in Deutschland zu lange der „Deutungshoheit„ entfesselter Finanzmärkte ergeben hatte. Sie zeigte sich für Marktliberalisierungen offen und gab der „Schattenwelt„ bzw. den „Zauberkunststücken„ der Banken sehr stark Raum, um das Finanzzentrum Frankfurt am Main auf Augenhöhe mit der City of London und der Wall Street in New York City zu halten und das Gewicht der Finanzwirtschaft an dem der Realwirtschaft zu orientieren. Dieser ehemalige Finanzminister spricht zwar von Fehlern der Politik, vermeidet aber eine Beantwortung der Frage, wer denn an dem ganzen Schlamassel schuld ist. Die Frage nach der – individuellen oder kollektiven – Verantwortlichkeit führt nach seiner Meinung nämlich ins „Nirwana„. Wir haben ihm aber immerhin die Erkenntnis einer „Gemengelage„ aus mehreren Faktoren zu verdanken. Dazu rechnet er:

  • Globale Ungleichgewichte
  • Philosophie der Deregulierung
  • Risikoignoranz und Arroganz von Bankmanagern
  • Mangelnde „Brandmauern„ und „Sicherungskästen„
  • Intransparenz des Marktgeschehens
  • Gier von Bankkunden


Steinbrück enthüllt auch eine große Skala des Versagens, auf der die Fehlerhaftigkeit der Politik abzutragen ist. Sie umfasst:

  • Unvermögen zum Abbau des fatalen ökonomischen Missverhältnisses zwischen den USA und China;
  • Exorbitante Leistungsbilanzüberschüsse zwischen Deutschland und den anderen Mitgliedsstaaten der EU und des Euro-Raums;
  • Anhäufung gigantischer Schuldenberge;
  • Mangelnde Nutzung der Einführung des Euro für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch ein niedriges Realzinsniveau;
  • Mangelnder Widerstand gegen „spekulative Kreditschöpfungen„;
  • Mangelnde Überführung der Währungsunion in eine Wirtschaftsunion;
  • Unklare Botschaft des „Formelkompromisses von Brüssel„ Ende März/Anfang Mai 2010 (Griechenlandhilfe).
  • Gewährung unbegrenzter Liquidität durch staatliche Garantien für systemrelevante Banken und europäische Gewährleistungen für in Not geratene Länder;
  • Mangelnder Druck auf eine fundamentale Umstrukturierung und Konsolidierung des Landesbankensektors;
  • Aufhäufung des Klumpenrisikos im Verbriefungsgeschäft bei den Landesbanken;
  • Mangelnde Wahrnehmung des Anwachsens des Schattenbanksystems und der Auslagerung der Geschäfte in Zweckgesellschaften außerhalb des regulierten und beaufsichtigten Bereichs;
  • Mangelnde Initiative für eine Ermächtigung der Bankenaufsicht zur Prüfung ganzer Geschäftsmodelle.

Das alles weiß man jetzt also. Und was wusste man vorher? Wer wusste was wann? Wer hätte wie handeln müssen? Wer ist also schuld? Es wäre mehr als naiv, von den politisch Verantwortlichen oder den wirtschaftlich Begünstigten zufriedenstellende Antworten zu erwarten. Man muss den Eindruck haben, dass vieles passiert ist, ohne dass irgendjemand gehandelt hat, eine Situation, die fast schon eine Umformulierung des Romantitels „Mann ohne Eigenschaften„ in „Eigenschaften ohne Mann„ rechtfertigt.

Kurzgefasst

  1. Die Krise ist eine Krise. In ihr offenbart sich das aktuelle Versagen des Kapitalmarktsystems und einer vermeintlichen Führungselite.
  2. Die Krise ist keine Krise. Sie ist eine Konsequenz flächendeckenden Staatsversagen und des selbstsüchtigen Weltbild einer ganz besonderen Art des Besitzbürgertums.

Nach diesem ersten Abschnitt unserer Wanderung dürfen wir angemessen erschöpft sein. Nach deren Fortsetzung wird es aber bald wieder Zeit, den nächsten Rastplatz aufzusuchen. Dort wartet leider die zweite Frage schon auf uns. Sie heißt:

II. Versager oder Verbrecher?

Die pflichtwidrige Vernichtung fremden Kapitals ist eine Straftat. Diese Auffassung hatte der amtierende deutsche Bundespräsident Christian Wulff zu Beginn des Jahres 2009 noch in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident Niedersachsens vor dem Hintergrund der Finanzkrise öffentlich geäußert. Diese Äußerung beschreibt aber weder die Rechtslage noch die Realität zutreffend. Es gibt keinen Straftatbestand der „Kapitalvernichtung„. Und bislang ist noch niemand wegen der Verursachung der Finanzkrise rechtskräftig verurteilt worden. Hinter der Aussage des jetzigen Bundespräsidenten steht Wunschdenken, wenn auch ein sehr nachvollziehbares. Dafür gibt es gute und schlechte Gründe. Niemals zuvor haben so wenige Mensche so vielen einen derart hohen Schaden zugefügt, wie dies in der anhaltenden und sich weiter verschärfenden Finanzkrise geschehen ist. Dennoch: Die Teilnahme an einer Art „Systemkriminalität„ war offensichtlich bis jetzt ohne Strafbarkeitsrisiko. Die verantwortlichen Akteure auf den Finanzmärkten, die Politiker in den Aufsichtsgremien von Finanzinstituten und die Mitglieder der Gesetzgebungsorgane tragen anscheinend keine Schuld. Das ist bemerkenswert, sind die schädlichen Wirkungen konkreten menschlichen Verhaltens doch gerade nicht mit den Folgen einer Naturkatastrophe zu verwechseln.


Finanzzentrum Frankfurt am Main – auf Augenhöhe mit der City of London und der Wall Street (Foto: Schlaga)

Es geht bei alledem nicht nur um die Bemessung des konkreten Schadens individueller Anleger und Sparer. Wir stehen vor einem Szenario der Staatskrisen, in deren bisherigen Verlauf ganze Wirtschaftregionen und Währungssysteme bis in die Grundfesten erschüttert wurden. Ein Ende ist nicht absehbar. Die Bestrafung einzelner Täter und Gruppierungen wird natürlich keine systematische Abhilfe schaffen können. Soweit sich bestimmte Personen strafbar gemacht haben, ist und bleibt deren Verfolgung aber ein Gebot der Gerechtigkeit. Das Strafrecht ist in seiner gegenwärtigen Verfassung dafür kaum geeignet. Das gilt auch für Ausstattung und Qualität der zuständigen Behörden und Gerichte. Zudem darf man sich keine Illusionen über die grundsätzliche Ungeeignetheit strafrechtlicher Sanktionierungen für die Bewältigung historischer Umbrüche machen.
Die Finanzkrise und die damit verbundenen unübersehbaren Schäden sind auch das Ergebnis ordnungspolitischen Versagens. Für dessen Kompensation ist jedoch nicht der Staatsanwalt, sondern der Souverän, also alle Bürgerinnen und Bürger eines jeweiligen Landes, zuständig. Sie sollten sich überlegen, in welcher Form auf dieses weitverbreitete Staatsversagen zu reagieren ist. Ein Versagen, das auch die Frage aufwirft, ob es eine „Korruption durch Inkompetenz„ geben kann. Das Leben ist bekanntlich immer konkret: Zum Ende des Jahres 2010 konnte man erfahren, dass es voraussichtlich im Laufe des Jahres 2011 zu ersten Versuchen einer strafrechtlichen Aufarbeitung im Zusammenhang mit einem nicht nur lokal bedeutsamen Bankgeschäft kommen könnte. Die Staatsanwaltschaft München dürfte Anklage gegen Werner Schmidt und weitere Manager der BayernLB erheben. Grundlage dafür ist der Verdacht, dass die Betroffenen eine in Kärnten beheimatete Bank bewusst zu einem weit überhöhten Preis gekauft und damit den Bürgern Bayerns schweren Schaden zugefügt haben könnten. Zudem scheinen die Strafverfolger davon auszugehen, dass Schmidt und/oder manche seiner Kollegen den verstorbenen Hauptmann dieses genannten Bundeslandes, Jörg Haider, zu dessen Lebzeiten bestochen haben könnten. Die damaligen Kontrolleure im Verwaltungsrat der BayernLB haben dagegen bis jetzt nichts von der Staatsanwaltschaft zu befürchten. Nach deren bisherigen Erkenntnissen sind sie vom früheren Vorstand unzureichend informiert worden. Die bayerischen Staatsanwälte wollen die Delikte der Untreue und der Korruption nun „in einem Aufwasch„ vor Gericht bringen, aber nur soweit Vorstandsmitglieder deswegen zur Verantwortung gezogen werden können. Nach ersten Einschätzungen könnte sich damit der Vorhang für die juristische Aufarbeitung eines der größten Bankenskandale der deutschen und vielleicht auch der österreichischen Geschichte öffnen. Der Kauf der HGAA sei nicht einfach (nur) eine unternehmerische Fehlentscheidung gewesen. Viele Indizien deuten darauf hin, dass Schmidt und andere auf Kosten der Steuerzahler sogar bewusst ein „unsinniges„ Geschäft gemacht haben. Der Prozess gegen Schmidt und seine Helfer sollte aber erst der Anfang sein.
Es ist daran zu erinnern, dass auch die Rolle des mit hochrangigen CSU-Politikern besetzten Verwaltungsrates aufgearbeitet werden muss, auch wenn die Staatsanwaltschaft ihnen Unkenntnis zugute hält. Damit sind seine Mitglieder von ihrer Verantwortung für die Milliardenverluste jedoch nicht freigesprochen. Mit Recht wird darauf hingewiesen, dass ein Teil der Milliarden, die die Bürger für die Rettung ihrer Bank aufgebracht haben, für immer verloren sein wird, selbst wenn es für die BayernLB gut läuft. Es ist aber doch sehr fraglich, ob sich die Hoffnung erfüllen wird, ein hartes Vorgehen gegen die Verantwortlichen werde helfen, Betrug und „Vetternwirtschaft„, also Korruption, künftig einzudämmen. Die Zeichen stehen eher schlecht.
Nach monatelangen Prüfungen hat der Vorstandschef der BayernLB, Gerd Häusler, am 20. Dezember 2010 zwar mitgeteilt, dass der gesamte Verwaltungsrat, darunter die damaligen Minister Huber, Beckstein und Faltlhauser sowie der Staatssekretär Georg Schmid, der heute als CSU-Fraktionschef im bayerischen Landtag wirkt, beim Kauf der HGAA Pflichtverletzungen begangen hat, die zu massiven finanziellen Schäden geführt haben. Häusler hebt hervor, dass der Verwaltungsrat sich nicht ausreichend über das Milliardengeschäft mit der HGAA informiert hat, also seinen Überwachungspflichten nicht nachgekommen ist. Das Verhalten der Verwaltungsräte sei auch schuldhaft gewesen. Haftbar machen könne man aber allenfalls den früheren Chef des Kontrollgremiums, Bayerns Ex-Sparkassenpräsidenten Siegfried Naser, und dessen Stellvertreter im Verwaltungsrat, Ex-Finanzminister Faltlhauser. Sie hätten aufgrund ihrer besonderen Verantwortung eine Sondersitzung einberufen und sich genau über die betriebene Übernahme der HGAA informieren müssen. Die Prüfung, ob tatsächlich gegen die Genannten Schadenersatzansprüche geltend gemacht werden, dürfte sich indes noch mehrere Monate hinziehen. Die Geltendmachung von Ansprüchen gegen die ehemaligen Verwaltungsräte Huber, Beckstein und Schmid hält man hingegen schon jetzt für aussichtslos. Im Jahre 2002 wurde nämlich in der Satzung der BayernLB geregelt, dass Verwaltungsräte nur haften, wenn sie ihre Pflichten vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzen. Für den jetzigen Chef der BayernLB handelt es sich dabei um ein ungewöhnliches „Haftungsprivileg„. Die Schwelle zur groben Fahrlässigkeit sei nämlich sehr hoch und bei der Mehrzahl anderer Banken reiche eine einfache Fahrlässigkeit für Schadenersatzansprüche. Offensichtlich wollte man die Mitglieder des Verwaltungsrats schützen, die von Amts wegen dem Gremium angehörten und nicht gefragt wurden, ob sie sich ausreichend sachkundig fühlen. Zur Erinnerung: Das „Haftungsprivileg„ wurde in der Amtszeit des Ministerpräsidenten Stoiber eingeführt. Kurz zuvor war der der CSU freundlich gesonnene Medienunternehmer Leo Kirch pleitegegangen. Ihm hatte die BayernLB zuvor immerhin zwei Milliarden Euro geliehen. Die deutsche Bankenaufsicht hatte anschließend dort schwere Mängel bei der Vergabe der Kredite festgestellt.
Der Ausdruck „Haftungsprivileg„ ist eine gelungene Formulierung. Man könnte auch fragen, ob sich dahinter eine amtliche Widerlegung einer alten Volksweisheit („Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand„) verbirgt. Man schien eine leise Ahnung gehabt zu haben, dass eine Mitgliedschaft kraft Amtes nicht immer die Verfügbarkeit einschlägigen Sachverstandes bei den jeweiligen Amtsträgern garantiert. Funktionell ist die Bestimmung in der Satzung der BayernLB vielleicht nichts anderes als eine vorsorgliche Form der Selbstbegünstigung unter den Bedingungen eines objektiven Interessenkonfliktes. Die Frage dürfte indessen nicht justiziabel sein. Es geht um die Charakteristika eines ganzen Systems, das sich an mehreren Stellen durch eine leistungskräftige Kombination aus Unverstand und Unverantwortlichkeit auszeichnet. Ein Haftungsprivileg der zitierten Art ist jedenfalls bei Aktiengesellschaften unüblich.


Finanzkrise: Wer wusste was wann? Wer hätte wie handeln müssen? Wer ist also schuld? (Foto: Deutscher Bundestag / Simone M. Neumann)

In der CSU hatte in den Monaten vor der öffentlichen Erklärung Häuslers erhebliche Unruhe geherrscht. Der amtierende Finanzminister Fahrenschon hätte die Schadenersatzklagen vorantreiben müssen. Ein Verfahren „CSU gegen CSU„ würde die Partei jedoch in eine Zerreißprobe führen. Immerhin ist deutlich geworden, dass die bisherige Haltung der CSU-Potentaten im Untersuchungsausschuss widerlegt oder zumindest erschüttert ist. Sie behaupten ständig und unverdrossen, dass sie ihre Aufsichtspflichten im Verwaltungsrat korrekt wahrgenommen hätten. Für das Debakel mit der HGAA macht der ehemalige Minister und Verwaltungsrat Huber „raffiniert versteckte Risiken„ und die „weltweite Finanzkrise„ verantwortlich. Er sieht sich nach wie vor als unbequemen, kritischen, ja lästigen Aufseher. Der jetzige Vorstandsvorsitzende der BayernLB beanstandet gleichwohl, dass der Verwaltungsrat im April 2007 den Vorstand zum Erwerb der HGAA ermächtigt hatte, obwohl wesentliche und zahlreiche Fragen ungeklärt waren. Der Verwaltungsrat unterließ auch in der Folgezeit die Einholung der notwendigen Informationen. Besonders gravierend erscheint, dass die beiden Vorsitzenden des Verwaltungsrates, Naser und Faltlhauser, es vor der Vertragsunterzeichnung unterlassen hatten, eine außerordentliche Sitzung des Aufsichtsgremiums einzuberufen und stattdessen die Zustimmung in einem schriftlichen Umlaufverfahren einholten. Aus früheren Landesbank-Skandalen hatte man bei der CSU also allen Ernstes die Lehre gezogen, dass Verwaltungsräte nur unter Voraussetzungen haften sollten, die regelmäßig unrealistisch bzw. kaum einer Beweisführung zugänglich sind. In ersten öffentlichen Reaktionen wurde daraufhin gefordert, die „Spezln-Wirtschaft„ aufzuklären. Womöglich seien die Abgründe bei der BayernLB noch tiefer als bekannt. Eine öffentliche Entschuldigung der Betroffenen wird jedoch genauso wenig erwartet wie eine freiwillige Zahlung oder ein Rückzug von hohen politischen Ämtern.
Offensichtlich klafft die ohnehin schon bestehende gewaltige Lücke zwischen ethisch-moralischen Grundsätzen und der juristischen Aufarbeitung seit der Erklärung Häuslers noch weiter auseinander. Der jüngste Entschluss, von Schadenersatzforderungen gegen die Verwaltungsräte abzusehen, wird sogar in einem eher wirtschaftsfreundlichen und staatstragenden Milieu als „fatales Signal„ gewürdigt:


Es scheint mittlerweile sogar schon eine „Tradition„ entstanden zu sein, wie ein Blick auf Stefan Ortseifen (IKB) und Georg Funke (HRE) zeigt. Natürlich hat Häusler recht, wenn er behauptet, dass der Vorstand die Rechtsnormen anwendet, die er vorfindet, und dass andere sie ggf. zu ändern hätten. In ersten Kommentaren wurde schon vorausgesagt, dass die dessen ungeachtet anstehenden Strafverfahren für die Staatsanwälte kein Spaziergang werden. Es kann zwar kein Zweifel daran bestehen, dass hochriskante und für Institute mit öffentlichem Auftrag atypische Geschäfte die Steuerzahler viele Milliarden Euro gekostet haben. Unklar bleibt aber, ob man dies am Ende auch bestrafen kann. Auf den ersten Blick stehen die Chancen schlecht. Es wäre verhängnisvoll, wenn es dabei bliebe. Die gewaltigen staatlichen Rettungsmaßnamen wären vergebens, wenn die Finanzkrise nicht anständig bewältigt wird. Viele Banker sind ziemlich unverfroren schon wieder zur Tagesordnung übergegangen, als wäre nichts gewesen. Die juristische Aufarbeitung ist aber noch lange nicht abgeschlossen. Man wird zwar eingestehen müssen, dass nicht jeder Missgriff kriminell ist und Fehler nur derjenige vermeidet, der gar kein Risiko eingeht. Anders als früher können sich Fehler aber heutzutage im ganzen System auswirken, wie die Finanzkrise zeigt. Sie hat sich zum „Weltflächenbrand„ entwickelt.
Die Aufgabe wird also auch darin liegen, gutes und schlechtes Risikoverhalten zu unterscheiden. Trotz einiger weniger Verurteilungen im Bankenmilieu ist noch einmal daran zu erinnern, dass bislang niemand dafür verurteilt worden ist, überhaupt so riskant und verantwortungslos spekuliert zu haben. Auch Zeitungsleser können mittlerweile wissen, dass der am ehesten einschlägige Untreue-Paragraph 266 des deutschen StGB (§ 153 öStGB) häufig nicht greift, weil ein schuldhaftes Fehlverhalten nicht nachweisbar ist. Bankchefs haben meist nicht bewusst und gegen allen Rat das Falsche getan. Noch schlimmer, aber rechtlich womöglich entlastend, ist, dass sie womöglich gar nicht wussten, was sie taten. Ein Journalist zitierte kürzlich einen Spitzenbanker, der erklärte, er habe in den letzten Jahren so viel Unfähigkeit gesehen, dass ihm angst und bange geworden sei. Das aktuell drängende Problem ist daher, den „Amateuren in Nadelstreifen„ das Handwerk zu legen. Selbst Tageszeitungen thematisieren, dass das Strafrecht dabei an seine Grenzen stößt. „Strafrechtsprofis„, die allerdings auch gelegentlich im Nebenjob in einschlägigen Gerichtsverfahren als Verteidiger der jeweiligen Verdächtigen auftreten, warnen ebenfalls heftig.Unbeschadet der Möglichkeiten einer zivilrechtlichen Inanspruchnahme (Schadenersatz) müsse, so hofft man vereinzelt, in letzter Linie eine Sanktionierung durch die öffentliche Meinung erfolgen. Dazu gehört eine Zivilgesellschaft, die sich an der öffentlichen Debatte beteiligt. Dies geschieht in Österreich schon in beeindruckender und zum Teil sehr grundsätzlicher Weise. Hier wird zutreffend erkannt, dass sich zwischen dem Ende des Feudalismus und einer künftigen Gesellschaft die bürgerliche Epoche als ein Schlachtfeld ausbreitet, auf dem es aber insofern „bürgerlich gemütlich„ zugeht, als die Länder sich zwischen den militärisch geführten Kriegen an bloßen „Finanzkriegen„, den Wirtschaftskrisen, ergötzen. Zum Glück verliere das vielgerühmte Bürgertum in demselben Maße, in dem es zu einer kriminellen Clique schrumpfe, die Kraft zum Krieg. Beginnt es dennoch einen, habe es ihn schon verloren. Mit der verbliebenen Energie führe es eben Finanzkriege. Diese richteten sich immer auch gegen den Aggressor selbst. In ihnen gehe das Bürgertum als dominierende Klasse samt seiner „Scheindemokratie„ unter. Ökonomische Krisen sind in den Augen von Michael Scharang auch gesellschaftliche. Insofern sind sie tatsächlich besonders risikoreich. Gibt es in einer Gesellschaft revolutionäres Potential, wird nach seiner Auffassung die herrschende Schicht eine Wirtschaftskrise vermeiden, um sich nicht selbst zu gefährden. Gelingt es aber, die revolutionären Kräfte niederzuhalten und an ihre Stelle eine Sozialdemokratie zu setzen, deren linker Flügel der Revolution zwar nicht abgeneigt ist, doch nur unter der Bedingung, dass sie zum richtigen Zeitpunkt stattfindet, also nie, dann könne man eine Wirtschaftskrise nicht nur zulassen, sondern sogar inszenieren, mit Aussichten auf Gewinne, wie sie sonst nicht zu erwirtschaften seien. Die Geldströme der Steuerzahler versiegen jedenfalls auch dann nicht, wenn das Kartenhaus der Spekulanten einstürzt.
Die Wirtschaftskrise seit 2007 wird als der erste Finanzkrieg in der Geschichte bezeichnet, der nicht als Unglück über die Menschheit hereingebrochen ist, sondern von der Finanzindustrie 20 Jahre lang geplant wurde. Kritik habe in dieser Öffentlichkeit aber keine Funktion gehabt. Journalisten, Politiker und Wissenschaftler hätten alle Wert darauf gelegt, dem „Mainstream„ anzugehören. Fragwürdig sei nicht, das zu sagen, was alle sagen. Als fragwürdig empfindet es Scharang aber zu Recht, das zu sagen, was die Macht, also die Finanzindustrie, vorkaut. Unter diesen Bedingungen repräsentieren soziale Aufsteiger aus seiner Sicht geistigen Abstieg. Der produzierte eigene geistige Schund werde fortwährend angepriesen. Politisches Engagement bestehe heute darin, für unhaltbare Zustände Reklame zu machen. Eine Krise wird schließlich als das beste Mittel anerkannt, um Herrschaft zu stabilisieren.

Kurzgefasst

  1. Viele Akteure auf den internationalen Finanzmärkten und in Investmentbanken sind Versager, weil sie zwischen ihren eigenen Bereicherungsambitionen und den objektiven Realitäten des Wirtschaftslebens nicht mehr unterscheiden können oder noch nie dazu in der Lage waren.
  2. In Rating-Agenturen, Banken, Wirtschaftsunternehmen, Parlamenten und Behörden haben sich Netzwerke etabliert, durch die auch in krimineller Weise dem Gemeinwesen Schaden zugefügt worden ist. Etliche der dort Handelnden stehen unter einem entsprechenden Verdacht, der bis jetzt nicht annähernd aufgearbeitet ist.

Angesichts derartiger Behauptungen, Hoffnungen und Befürchtungen nimmt die Erschöpfung auf unserer Wanderung offensichtlich zu. Glücklicherweise ist der nächste Rastplatz schon in Sicht. Dort stellt sich die dritte Frage. Sie heißt:

III. Revolte oder Revolution?

Diese Alternative ist offensichtlich verwegen. In meinem Herkunftsland sind nämlich alle meine Rufe auf die Barrikaden bisher erfolglos geblieben. Soweit Menschen mich überhaupt gehört haben, haben sie sich nur bewegt, um sich aus dem Kühlschrank ein kaltes Bier zu holen. Sie haben sich auch nicht für die Alternative interessiert. Sollten auch Sie damit Verständnisprobleme haben, dann empfehle ich einen kurzen Blick in die Geschichte. Sie brauchen nur bis zur viel gepriesenen französischen Revolution zurückzugehen. Dann werden Sie sehen, dass der Souverän es hin und wieder für notwendig und angemessen hält, die Verantwortlichen einer gemeinwohlschädlichen Entwicklung vom Leben zum Tode zu befördern. Ich muss mich jetzt nicht nur aus beamtenrechtlichen Gründen sehr beeilen, um Ihnen zu versichern, dass ich bestimmte seinerzeit übliche Maßnahmen zur Lösung der mit der Finanzkrise verbundenen Probleme nie in Betracht gezogen habe und diese selbstverständlich auch nie vorschlagen werde. Abschließend will ich mich vielmehr sehr viel weniger dramatischen Erwägungen widmen:
Die Positionen, die ich hier nur sehr oberflächlich vorstellen konnte, reflektieren die Erkenntnis, dass die Finanzkrise zumindest teilweise durch die fehlende Kontrolle, die betrügerische Vertuschung der bestimmten Finanzprodukten innewohnenden Risiken und dem veruntreuenden Umgang mit fremdem Kapital verschuldet wurde. Deshalb ist es auch zwingend, über strafrechtliche Interventionen nachzudenken. Das Strafrecht sollte sich auf Bereiche kollektiver, im Wirtschaftssystem implizierter Rechtsgüter ausdehnen. Dabei wird man übrigens zu berücksichtigen haben, dass die angebliche Professionalität zahlreicher Entscheidungsträger in der Bankenwelt und in der Politik war offensichtlich auf dem gleichen Niveau, das Vertreter der indianischen Urbevölkerung hatten, als sie den europäischen Eroberern für ein paar Glasperlen Manhattan und später für ein paar Fässer Whiskey ihre Seele und ihre Würde verkauften. Bislang hat aber niemand überzeugende Schlussfolgerungen gezogen. Das alles ist nicht nur ein politischer Skandal, sondern ein fortgesetztes Systemversagen besonderer Art, weil wir hochgefährliche und global veranstaltete Organisierte Kriminalität vor uns haben.


Die Kosten der Krise tragen die Bürger (Foto: Hofem)


Die voreilig gezahlten und in jeder Hinsicht unangemessenen Boni für Banker dürften das entscheidende Motiv gewesen sein. Trotzdem finden bis heute keine hinreichend wirksamen und umfassenden Anstrengungen statt, diese illegitime Beute aus den Scheingewinnen der Vergangenheit sicherzustellen. Vielmehr wird die Praxis der Beutesicherung selbst in den gerade von Regierungen geretteten Banken fortgesetzt. Das gilt auch für den Einsatz des Investmentbankings zur Ausweisung von Gewinnen. Leider ist die Einsicht immer noch nicht weit verbreitet, dass eine Aufarbeitung der Verhältnisse im Bankenbereich auch in Strafverfahren geleistet werden muss. Das liegt auch im Interesse des Bankensystems selbst. So könnte auch der Anschein einer „Funktionärskleptokratie„ beseitigt werden. Es ist höchste Zeit, dass das traditionell vor allem gegen die „Unterschicht„ eingesetzte Strafrecht auch gegen die „Oberschicht„ gleichmäßig angewendet wird. Wenn es jemals irgendein Feld gegeben hat, wo dies überfällig ist, dann ist es die Finanzkrise. In ihr haben sich Risiken verwirklicht, die seit geraumer Zeit evident waren. Das Ausmaß der eingetretenen Schäden mag überraschend gewesen sein, ihr Eintritt war es nicht. Selbst in den regulierten Zonen fand der Tanz auf dem Vulkan mit Wissen und Wollen der Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft statt. Nationale Egoismen und menschliche Schwächen, unzureichende Gesetze und mangelhafte Aufsicht, systematisierte Selbstbegünstigung und Kompetenzmängel, gesellschaftliche Lethargie und Verluderung des Gemeinsinns, strukturelle Fehlentscheidungen und Verantwortungsscheu zählen u. a. zu den Faktoren, welche die größte Vermögensvernichtung der neueren Wirtschaftsgeschichte begonnen und über Jahre gefördert haben. Die Geldkrisen der Gegenwart sind jedoch möglicherweise trotz alledem kein Ausdruck von Marktversagen, keine Krise des Kapitalismus, kein Argument gegen die Gier und auch kein Beweis für den Unsinn von Managergehältern und Renditezielen. Wir stehen vor den Ergebnissen staatskapitalistischen Systemversagens. Geld steckt als solches in der Krise, mit ihm die Theorie der „Pumpwirtschaft„, also der Staat als Emissionär des Geldes, als Hüter seines Wertes und Letztinstanz unseres Vermögens. Die entscheidende Frage lautet deshalb:

Können wir Staaten überhaupt noch vertrauen?

Alles wird davon abhängen, ob staatliche Gemeinwesen überall auf der Welt die Kreditschöpfung der Geschäftsbanken auf ein gesundes Maß beschränken können. Sie haben die Aufgabe, die Fruchtbarkeit des sich selbst genügenden Geldes an den Finanzmärkten von sich selbst weg und wieder zurück auf realwirtschaftliche Güter und Dienstleistungen zu lenken. Es geht um die staatlich organisierte Zügelung der „satanischen Frivolität des Geldes„, die so lange zur Verbreitung von „Anti-Geld„ (Schuld, Kredit) führt bis es sich selbstvermehrend aufgezehrt hat. Es steht also viel auf dem Spiel, auch der Staat selbst. Bei ihm allein ist unser Geld aufgehoben. Seiner Protektion ist es ausgeliefert. Wir haben ihm unsere Schätze überantwortet. Er ist der Tresor, der unsere Einlagen und Reserven sichert und unser modernes Geld-Welt-Vertrauen behütet (vgl. Schnaas, Dieter, „Kleine Kulturgeschichte des Geldes„, München 2010) Daraus können sich dramatische Folgen ergeben:

Was ist, wenn der Staat dieses Vertrauen verliert?

Wir werden zu prüfen haben, ob wir mit unseren bisherigen Wahlentscheidungen sicherstellen konnten, dass genügend kompetente und unbestechliche Amtswalter eingesetzt wurden, die ihren Aufgaben im Interesse des Gemeinwohls gerecht werden können. Wir sollten auch immer wieder darüber nachsinnen, wer für diese Entwicklung verantwortlich ist und ob die erforderlichen Erklärungen und Sanktionierungen in Wahllokalen, Gerichtsälen oder auf öffentlichen Plätzen und Straßen zu finden und zu exekutieren sind. Und wir werden zu diskutieren haben, welche sonstigen Reaktionen notwendig sind, um mit den Veranstaltern und Nutznießern des bisher größten Raubzuges der modernen Wirtschafts- und Kriminalgeschichte angemessen umzugehen. Immerhin haben wir doch einige Fortschritte auf unserer Wanderung zum Ende der Welt gemacht. Sie wird trotz zunehmender Erschöpfung weitergehen müssen. Deshalb werden wir noch eine ganze Reihe von Rastplätzen aufsuchen. Dort warten alte und neue Fragen auf uns. Den Anstrengungen einer Beantwortung sollte man sich auch dann nicht entziehen, wenn man auf dieser Wanderung einfach nur noch stehen bleiben will, in der Hoffnung, doch nicht in den Abgrund sehen zu müssen oder gar hineinzufallen. Aber vielleicht kommt es schon gar nicht mehr darauf an, ob wir uns noch bewegen wollen oder können. Möglicherweise ist der Boden selbst bereits in Bewegung geraten. Es kann zu tektonischen Verschiebungen kommen. Unter deren Bedingungen liegt es nicht mehr nur an uns selbst, den zeitlichen und räumlichen Abstand zum Abgrund und zu einem möglichen Absturz zu bestimmen. Wir sollten uns dennoch bewegen, und zwar in die richtige Richtung. Bleiben wir stehen oder wandern wir weiter wie bisher, ist unser Schicksal auf jeden Fall besiegelt.
Schon jetzt ist die Lage bedrückend. Die Beteiligung privater und gewinnorientierter Interessen in Gestalt international verflochtener Rechtsberatungskonzerne, insbesondere an der Neuordnung der Kapitalmärkte, hat den Grundgedanken der Gewaltenteilung zum Popanz degenerieren lassen. Hohe Millionenbeträge aus Steuermitteln werden dafür ausgegeben, dass die Bediensteten amerikanisch und britisch geprägter Dienstleistungsunternehmen nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland bzw. für die das Land gerade verwaltende Regierung Gesetzesvorlagen entwerfen oder Gutachten über wirtschaftliche und finanzpolitische Fragen schreiben. Sie gestalten maßgeblich die Gesetze, auf deren Grundlagen sie später ihre Mandanten – meist Konzerne und große Unternehmen – beraten. Objektive Interessenkonflikte zwischen Regierungen und Begünstigten verwandeln sich im intransparenten Milieu der „Power Broker„ (Händler der Macht) einvernehmlich in eine besondere Form der Staatsräson. Damit sind wir nicht mehr weit von mafiotischen Funktionsprinzipien entfernt. Der Rechtsstaat und die freiheitliche Demokratie sind in Gefahr zur Beute von marodierenden Meuten aus Bankern und Banditen zu werden, unterstützt von einer inkompetenten und korrupten Politikerkaste. Sollten wir das nicht verhindern können oder wollen, dann haben wir alle daraus erwachsenden Konsequenzen verdient.

Kurzgefasst

1) Wir sind in der Krise, die wir verdienen.
2) Wir haben die Politiker, die wir verdienen.
3) Wir werden Opfer der Verbrecher, die wir verdienen.
4) Wir stürzen in den Abgrund, den wir verdienen.

Der Sturz in den Abgrund ist vielleicht vermeidbar. Wir alle müssten nur lernen zu fliegen. Sollten wir auch das nicht leisten können oder wollen, gäbe es eine Alternative:

„O meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stoßen!
Das Alles von heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich will es noch stoßen!
Kennt ihr die Wollust, die Steine in steile Tiefen rollt? – Diese Menschen von heute: seht sie doch, wie sie in meine Tiefe rollen!
Ein Vorspiel bin ich besserer Spieler, o meine Brüder! Ein Beispiel! Tut nach meinem Beispiele!
Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir – schneller fallen! –„

(Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Dritter Teil, Von alten und neuen Tafeln).