Internationaler Terrorismus

Deutschland zwischen Integration und Islamismus

Anhand von Bevölkerungsvorausberechnungen und Projektionen des Statistischen Bundesamtes ist abzulesen, dass ab dem Jahr 2020 die bundesdeutsche Bevölkerung von 81 Millionen auf ca. 75 Millionen zurückgehen, wobei der Anteil der über 60-Jährigen auf etwa 36 % der Gesamtbevölkerung steigen wird. Die daraus resultierende Bevölkerungsstruktur ist eine feste, kurzfristig kaum veränderbare Größe. Nicht nur die Alterstruktur in Deutschland wird sich massiv ändern, sondern auch die gesellschaftliche Zusammensetzung. In diesem Zusammenhang muss man zunehmend feststellen, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist. Mittlerweile leben hier mehr als zwölf Millionen Menschen, die nicht in Deutschland geboren wurden oder nicht die deutsche Nationalität besitzen. Diese Menschen sind aus nahezu allen Ländern und Kulturen zugewandert.

Dr. Marwan Abou-Taam,
Islam- und
Politikwissenschaftler, Mainz

Die größte Herausforderung stellen derzeit die 2,7 Millionen Muslime in Deutschland. In Westeuropa leben 10 – 12 Millionen Muslime. Den Hochrechnungen kann man entnehmen, dass diese Zahl bis zum Jahr 2020 auf etwa 40 Millionen steigen wird. Damit sind wir mitten in einem europaweiten kulturellen Wandel. Davon ist Deutschland ganz besonders betroffen, denn die Politik hat es versäumt, die Menschen darauf vorzubereiten. Problematisch in Deutschland ist die Tatsache, dass Zuwanderer seit Ende der 1980er Jahren nicht zur Sanierung der Sozialkassen beitragen, sondern sie eher belasten. Daran kann man ablesen, dass sie besonders von der Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die fehlende Integrationspolitik führte dazu, dass die dritte Generation häufig schlechter deutsch spricht als ihre Elterngeneration. Aufgewachsen in Deutschland stellen sie Ansprüche wie Einheimische, werden zwangsläufig enttäuscht und sind noch schwerer zu integrieren. Ein Eskalationszirkel, der sich vorerst in schulischen Gewaltexzessen ausdrückt und auf Dauer an Intensität zunehmen wird.


Frustration und Gewalt – ein Wechselspiel

Gewalt muss im Kontext gesellschaftlicher Strukturen verstanden werden. Für die Schüler scheint sie eine sozial-integrative Funktion zu haben. Von der Gewalt geht wohl eine eigentümliche Faszination aus. Dabei wird die Tendenz deutlich, Unrecht auf den anderen zu projizieren, um so eine Legitimation für das gewaltmäßige Vorgehen zu erhalten. Die Nicht-integration von Migranten drückt sich heute in der Bildung von Ghettos und Parallelgesellschaften aus. Es findet ganz besonders bei Muslimen eine Abschottung statt, die uns verdeutlicht, dass der bloße Kontakt mit der deutschen Kultur nicht zur Übernahme ihrer Werte führt. Die Fehlende Integration zeigt sich am deutlichsten im schulischen Abstieg der Jugend. 59% der türkischen Jugendlichen sind heute ohne eine Berufsausbildung. Ein Großteil hat keinen oder einen schlechten Hauptschulabschluss. Die Annahme, dass sich schulische, sprachliche und berufliche Probleme mit steigender Aufenthaltsdauer von selbst lösen, ist durch die Realität klar widerlegt worden. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber die langfristigen Folgen dieser Entwicklung sind schon heute voraussehbar. Migrantenkinder mit schlechter Schulbildung werden in die Arbeitslosigkeit entlassen und sind mit dem sozialen Abstieg konfrontiert. Heute werden die Symptome durch finanzielle Transferleistungen des Staates verdeckt. Die Situation wird sich sehr bald ändern. Durch die zunehmende Verschiebung der Alterstruktur und durch die allgemeine ökonomische Lage wird der Staat immer weniger Mittel zu Verfügung haben. Eine weitere parallele Entwicklung ist, dass wir zunehmend einfache Jobs an Billiglohnländern verlieren werden. Nur Hochqualifizierte Arbeitsplätze werden angeboten. Einen Vorgeschmack können wir im Ruhrgebiet erleben. Dort sind durch den Strukturwandel vor allem Menschen mit schlechter Bildung in die Dauerarbeitslosigkeit geraten. Dies wird sich in Zukunft verstärken. Die Schüler an den Hauptschulen wissen, dass sie die Verlierer der Gesellschaft sind. Entsprechend verhalten sie sich. Sie entwickeln eigene Bewertungsmechanismen und genuine Konfliktlösungsmechanismen.


Eine neue soziale Wirklichkeit

Wir sind im einen fortgeschrittenen Zustand. Die Situation ist das Ergebnis jahrzehntelanger Ignoranz durch die Politik. Man wollte lange aus ideologischen Gründen nicht einsehen, dass die fehlende Integration von insbesondere muslimischen Migranten zur Entstehung von Parallelgesellschaften führt, deren Grenzen soziale und kulturelle Bruchlinien darstellen. Darin besteht jedoch heute bereits ein Sicherheitsrisiko, das dadurch verstärkt wird, dass die deutsche Gesellschaft strukturell und mental nicht ausreichend auf die Integration einer hohen Anzahl an Einwanderern vorbereitet wurde.

In einer sich zukünftig verschärfenden wirtschaftlichen Situation werden Migranten als Konkurrenten im Wettbewerb auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt gesehen, was wiederum zur Ablehnung und zum sozialen Unfrieden beiträgt. Indes entwickelt sich auf Seiten der Migranten als Folge der fehlenden Anerkennung ein System komplexer Zusammenhänge, Netzwerke und Verflechtungen. Die Schuld an ihrer prekären Situation wird der Mehrheitsgesellschaft zugeschoben. Solch ein Mechanismus ist gut dafür geeignet, die eigene Unfähigkeit zu verdecken. Objektiv und verengt gesehen, wird es so sein, dass die Betroffenen kaum Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen haben werden. Wirtschaftlich werden sie eine „benachteiligte„ Unterschicht bilden. Kulturell wird der Abstand zur Mehrheitsgesellschaft größer. Sie agieren hauptsächlich in ihrem eigenen sozialen Umfeld und partizipieren nur gering am politischen Geschehen des Staates, in dem sie leben. Gleichzeitig wird diese Gruppe jünger und damit dynamischer sein, als die Mehrheitsgesellschaft. Die faktischen Verlierer der Gesellschaft sehen jedoch die Potenziale, die sie nie erreichen werden. Somit haben wir alle Zutaten für eine zunehmende Radikalisierung. Bereits heute sind Parallelstrukturen und radikale Ideologien sichtbar, die auf transnationale Solidaritätsbeziehungen basieren. Das ist aus der sicherheitspolitischen Perspektive ein konfliktreiches Unterfangen, denn die Verlierer der Gesellschaft werden eine andere Lesart der Realität haben, wonach ihre Situation die Folge von systematischer Diskriminierung sei.

Die Nähe zur deutschen Gesellschaft bei einem gleichzeitigen Ausbleiben der kulturellen Bewältigung sozialen Wandelns führt somit zu einem wachsenden Bewusstsein der kulturellen Identität. Die Religion wird dabei die deutlichste Trennungslinie darstellen, denn sie bietet sich dafür an. Es herrscht ein Szenario des Rückzugs, der Identitätssuche, des Beharrens und der Angst vor. Diese Unsicherheit wird von den Islamisten bewusst instrumentalisiert. In seiner langfristigen Strategie bezieht sich Bin Laden darauf ein und beansprucht die Migrantengemeinschaften Europas als Speerspitze des Djihads in der von ihm für 2020 datierten totalen Konfrontation mit dem Westen. Die Frage der Integration ist somit aus sicherheitspolitischen Überlegungen ein Kampf um die Köpfe für die Sicherheit.


Terror in Deutschland, Terror aus Deutschland:

Die Anschlagsfolge in London 2005 zeugt davon, dass die Jugend gezielt mobilisiert und für den Djihad in den Aufnahmeländern begeistert wird. Auch deuten die Ergebnisse von Ermittlungen daraufhin, dass junge Migranten in Europa für den Djihad in Afghanistan, Tschetschenien und den Irak rekrutiert werden. Sie sollen dorthin gehen und für Gott gegen den „Weltunglauben„ kämpfen. Bereits heute haben wir also Strukturen, die zur Radikalisierung von Jugendlichen führen. Eine zunehmende Perspektivlosigkeit wird die Zunahme der Eskalation als Folge haben, was wiederum die Gräben zwischen den Bevölkerungsteilen vergrößert. Je mehr Misstrauen vorherrscht, desto höher dreht sich die Eskalationsspirale. Insgesamt scheint sich in islamisch geprägten Stadtteilen Deutschlands eine soziale Konstellation zu festigen, die Ähnlichkeiten vorweist, mit jener in islamischen Ländern, die von vielen Experten als Ursache des dortigen Terrorismus angeführt wird. Hoher Anteil an zukunftslosen Jugendlichen, die vom Gefühl der Ohnmacht überwältigt sind und das sich Ausbreiten einer exklusiven Ideologie, die dem einzelnen in einem globalen Kampf gegen den Unglauben interpretiert. Es findet eine Selbstaufwertung statt, die durch die moralische Abwertung der Mehrheitsgesellschaft erfolgt. In letzter Konsequenz wird der Bruch mit der als „unrein„ geltenden Gesellschaft vollzogen. Diese Polarisierung ist sicherheitspolitisch sehr gefährlich. Gesellschaftlich bedeutet sie die Zerstörung der Solidarität und somit der Basis des modernen Staates. Der Staat ist auf die Fähigkeit der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, sich solidarisch zu verhalten, angewiesen.



Wirkungsketten zwischen Hoffnung und Realität

Die Situation ist heute bereits sehr kompliziert. Zunehmend setzen sich weltanschauliche Eigenarten durch, also Einstellungen und Werte, die für die Wahrnehmung von politischen Realitäten eine konflikteskalierende Rolle einnehmen. Dabei ist Gewalt ein Identitätsmerkmal einer sich defensiv gebenden Jugend, in der oft die „Nicht-Gewalt„ massiv sanktioniert wird. Die zu beobachtende Abkapselung von der Mehrheitsgesellschaft und die steigende, zunächst verbale Aggressivität sind Indikatoren dafür, dass in Zukunft Konfliktmechanismen sich einstellen, die durchaus mit Gewalt entschieden werden. Es ist höchste Zeit, dass der Staat darauf reagiert, um die langfristigen Wirkungen zumindest zu mildern. Die Nachhaltigkeit in der Sicherheitspolitik kann nur erreicht werden, wenn ein komplementäres Denken in der Sicherheitspolitik vollzogen wird, das unterschiedliche Elemente der Gefahrenabwehr, Strafverfolgung und zivilisatorische Standhaftigkeit im Dialog auf der Grundlage verfassungsmäßiger Freiheitsrechte und staatsbürgerlicher Pflichten verbindet. Neue Kooperations- und Lernformen müssen dabei entwickelt und erprobt werden, die dazu beitragen sollen, ein kulturelles Kapital aufzubauen, so dass ein neues integratives Wir-Gefühl entsteht. Bei allen Versuchen den Begriff der Leitkultur zu vermeiden, brauchen wir von allen relevanten Teilen der Gesellschaft getragene Werte, die die Gesellschaft immun machen gegenüber totalitären Extremideologien, wie Faschismus oder Islamismus. Zunächst müssen wir eingestehen, dass die bisherige Politik gescheitert ist und damit radikal verändert werden muss. Die verlorene Zeit kann zwar nicht aufgeholt werden, allerdings muss auf die vorherrschende „explosive„ Situation reagiert werden. Staat und Gesellschaft verfügen hierfür über viele Ressourcen. Jedoch müssen insbesondere die Muslime einen großen Beitrag leisten. Ein öffentlicher Diskurs muss von den islamischen Verbänden fordern, dass sie ihre bisherigen Positionen überdenken und ihre Gemeinschaften in die Gesellschaft einführen. Dabei sollen sie die Chancen erkennen, die ihnen die offene Gesellschaft bietet, denn entweder geht der Islam mit seiner Zeit, oder er bleibt am Rande der Gesellschaft. Hier müssen eindeutige Signale kommen. Eine Stagnation kann aus sicherheitspolitischen Überlegungen von der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert werden, denn sie birgt die oben beschriebenen Gefahren. Der Staat darf nicht warten bis die Verbände und Kulturvereine handeln. Um die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen zu bewältigen, müssen die politischen Akteure bedenken, dass die Vertreterverbände der Migranten mit wenigen Ausnahmen Kulturvereine sind, die sich im Prinzip der Aufgabe gewidmet haben, die Bindung der Menschen an ihre Herkunftsländern und Kulturen zu festigen. Die angestrebte Integrationspolitik stellt sie somit vor einem paradoxen Zielkonflikt, wenn sie von ihnen verlangt zur Integration beizutragen. Die Verankerung muss also jenseits der Verbandskultur geschehen. Die Tatsache, dass die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime nicht in den Verbänden vertreten sind, kann sich als Chance erweisen. Diese sollte von den demokratischen Parteien erkannt werden. Wenn man es schafft Muslime in den Parteien einzubinden, gewinnt man jene Verbündete, die tatsächlich die großen Verbände unter Druck setzen. Die meisten Probleme der muslimischen Migranten bedürfen einer politischen Lösung. Arbeitslosigkeit, Schulbildung und politische Partizipation sind säkulare Themen, die des politischen Dialoges bedürfen. Der Staat darf nicht zulassen, dass sie als Teil des religiösen Diskurses durch die Verbände instrumentalisiert werden. Eine Ethnisierung dieser Themen macht sie undiskutierbar.


Zudem müssen wir eine neue Gewichtung im Selbstverständnis des Staates vornehmen. Dies hört sich sehr abstrakt an, ist jedoch eine Grundvoraussetzung für eine langfristige Normalisierung der Lage. Wir befinden uns mitten in einem Konflikt, der die Identität dieses Landes in Frage stellt. Der Staat muss darauf reagieren. Neben seiner Ausgleichspolitik sollte er nachhaltige Konzepte einer solidarisch orientierten Staatsbürgerschaft anbieten. Einfacher ausgedruckt: Staat und Gesellschaft müssen Identitätsstiftung im Sinne einer liberaldemokratischen Kultur betreiben. Dabei ist zu bemerken, dass Identität und Loyalitäten höchst psychologische Phänomene sind, die leicht durch eine sinnvolle Symbolpolitik umkippen können. Die Sichtbarkeit von Migrantenvertretern in solchen Prozessen signalisiert den inklusiven Charakter der Demokratie und gibt den Muslimen das Gefühl, am politischen Geschehen beteiligt zu sein. Als Gegenleistung müssen sie sich auch in der Praxis zu Deutschland bekennen und den Prozess der Abnabelung von den Herkunftsländern vorantreiben. Aktive Selbstreinigungskräfte innerhalb der muslimischen „Communities„ tragen zur Vertrauensbildung bei. Da Vertrauensbildung zu Komplex ist, bedarf es der Koordination von vertrauensbildenden Maßnahmen. Darin ist die Dialogindustrie im letzten Jahrzehnt gescheitert. Einen Beitrag zur Vertrauensbildung sollte die Schule
leisten.

Plädoyer für ein Staatsbürgerbewusstsein

Langfristig kann der Staat jenseits populistischer Forderungen, wie etwa die Bestrafung der Eltern bei fehlendem Integrationswillen, am besten in der Schule auf die Kinder einwirken. Die Schule ist der wichtigste öffentliche Ort, an dem der Staat die Staatsbürgerschaft und die Vorzüge der Demokratie und der in ihr beheimateten Freiheitsrechte propagieren kann. Damit kann er seine Integrationspolitik speziell auf die Interessen der Kinder richten und die patriarchalischen Strukturen in den Familien umgehen und langfristig aufbrechen. Ein Staatsbürgerbewusstsein ist auch für „deutsche Kinder„ wichtig, dies ist jedoch eine andere Debatte. Die Kinder sind nicht nur doppelte Opfer (Daheim und in der Gesellschaft), vielmehr sind sie auch das Potenzial für die Zukunft. Dieses Argument kann man lange erörtern, doch zusammengefasst muss im Sinne einer nachhaltigen Sicherheitspolitik, die Integrationspolitik gemäß der Interessen der Kinder und des Staates durchgesetzt werden. Die Integration der Kinder, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass Deutschland ihre Heimat ist, kann nur erfolgen, wenn sie von der Gesellschaft aufgenommen werden und gleichzeitig der Druck entfällt, sich als Türke, Araber usw. zu identifizieren.

Die Bewältigung der kulturellen Wende wird nicht erfolgreich sein, wenn auf der anderen Seite, politisierende Verbände stehen, die ganz genau wissen, dass eine erfolgreiche Integration, ihre Position schwächt. Kinder der Zuwanderer müssen deutsche Kinder werden dürfen.